Im August 1942 war der 11-jährige Theodor Kühn ins Alumnat der Kreuzschule aufgenommen worden und gehörte damit auch dem Kreuzchor an. Theodor, das älteste der drei Kinder von Pfarrer Hermann Kühn, hatte früh seine Liebe zur Musik entdeckt und spielte bereits als 5-Jähriger fast täglich Klavier. Der wissbegierige und fromme Junge stammte aus einer traditionsreichen Familie von Pastoren der Sächsischen Landeskirche und wollte später einmal selbst Pfarrer werden. Eine Ausbildung an den Fürstenschulen in Grimma oder Meißen, wie es im Hause Kühn eigentlich üblich war, kam für Theodor jedoch nicht in Frage. Beide vormals evangelischen Eliteschulen waren gänzlich von der NS-Ideologie durchdrungen und verkörperten längst keine christliche Haltung mehr.
Auch die Kreuzschule als öffentliches Gymnasium und sein Kreuzchor konnte sich dem Zugriff der braunen Machthaber nicht völlig entziehen. Fast das gesamte Kollegium trat formal oder aus innerer Überzeugung der NSDAP bei. Theodor musste, wie alle anderen Schüler, der Hitlerjugend (HJ) angehören und das „Fähnlein Kreuzchor“ – wie seine HJ-Sondereinheit hieß – bekam einen Bannführer vorgesetzt, der für die weltanschauliche Formung der Jungen Sorge zu tragen hatte. Fortan sollte der Chor die „Volksgemeinschaft“ und die Soldaten mit deutscher Sangeskunst stärken und das Deutschtum im Ausland repräsentieren. Der Versuch, das Chorrepertoire im Sinne der NS-Propaganda zu gestalten, scheiterte allerdings. Rudolf Mauersberger, der Kantor des Kreuzchors, führte auch weiterhin Werke von verfemten Komponisten auf und wehrte sich erfolgreich dagegen, die frommen Chorale durch das Horst-Wessel-Lied zu ersetzen.
Die vorerst letzte Konzertreise führte die Kruzianer im Frühjahr 1944 in die besetzen Niederlande. Für Theodor, der sich von seinem ersten Singegeld einen Globus gekauft hatte, war es die erste Reise ins Ausland und er freute sich darauf, neue Länder und Menschen kennenzulernen. Mit viel nationalsozialistischem Pomp verabschiedete die jubelnde Dresdner Menge die Kruzianer in ihren HJ-Uniformen am Hauptbahnhof. Doch noch bevor der Zug Radebeul erreicht hatte, schlüpften die Jungen – auf Anweisung Mauersbergers – wieder in ihre traditionellen dunkelblauen Gewänder. Als im Herbst 1944 der deutsche Volkssturm ausgerufen wurde, musste der Kreuzchor seine Konzerttätigkeit einstellen. Theodor sang mit dem Kreuzchor fortan nur noch bei Gottesdiensten und Vespern. Vom Kriegsverlauf beunruhigt, bat Pfarrer Kühn am 12. Februar 1945 die Schulleitung darum, seinen einzigen Sohn nach Borna zurückzuschicken. Doch seine Sorge fand kein Gehör.
Die Kreuzschule wurde beim ersten Luftangriff am nächsten Tag getroffen und fast vollkommen zerstört. Elf Kruzianer kamen ums Leben. Theodor, der vermutlich verängstigt im Schulgebäude geblieben war, starb an einer Rauchvergiftung. Am 20. Februar begrub Pfarrer Kühn seinen Sohn unter einer Birke auf dem Dorffriedhof von Borna.