Pani Wasielina in der Huzulei

Es sind keine 500 Kilometer Luftlinie, aber die Reise dauert fast 20 Stunden. Die Eisenbahn bis zur letzten Stadt vor der Grenze braucht länger als vor hundert Jahren, und am Grenzübergang wartet eine Prozedur, die einen in längst überwunden geglaubte Zeiten versetzt: Schlangestehen, Visumantrag ausfüllen, Gepäckkontrolle, Fragen, die einem Verhör gleichen. Später schaukeln wir in einem 30 Jahre alten Mercedes über Straßen, die von Schlaglöchern zerklüftet sind, und auf denen uns nicht nur einmal eine Herde Kühe oder Schafe entgegen kommt. Wir sind aber nicht in Afrika unterwegs, sondern von Krakau aus in eine Gegend, die für die meisten Europäer gar nicht mehr zu ihrem Kontinent gehört und in der doch 1887 kaiserlich und königliche Landvermesser die geografische Mitte Europas festgestellt haben: in die Huzultschtschyna, die Huzulei.

Die Huzulei liegt in den östlichen Karpaten, in denen alte Leute zigmal die Nationalität wechselten, ohne dass sie ihr Dorf auch nur ein einziges Mal verlassen haben: Geboren in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, dann polnisch oder rumänisch, sowjetisch, deutsch, wieder sowjetisch, seit 1991 ukrainisch. Ukraine bedeutet Grenzland, und hier am Czeremosz trägt die Ukraine diesen Namen zurecht. Oben auf den Gipfeln des Czarnohora-Gebirges, der Schwarzen Berge, liegt die Grenze zu Rumänien, wenige Kilometer westlich die zur Slowakei und zu Ungarn, den Czeremosz flussabwärts unweit von Czernowitz die zu Moldawien und nordwestlich die zu Polen. In dieser zugleich urwüchsigen und lieblichen Region starben die Menschen zu Hunderttausenden, weil Herrscher kamen, die alle ermordeten oder deportierten, die nicht in ihre Ideologie passten: Juden und Huzulen, Rumänen und Ruthenen, Bojken und Lemken, Ukrainer und Polen wie Michał Pazdanowski, den Großvater meiner Frau Gabriela, der 1937 in dieses Dorf am Czeremosz gezogen war. Er war nach Verkhovyna gekommen, das damals noch Żabie hieß und zu Polen gehörte, um eine Landwirtschaftliche Schule für das Bergvolk der Huzulen zu gründen.

Bild entfernt.Heute als Krankenhaus genutzt: Das Gebäude der ehemaligen Landwirtschaftlichen Schule in Verkhovyna, die 1937 von Michal Pazdanowski gegründet wurde.
Foto: Uwe von Seltmann

 

 

Bild entfernt.Verkhovyna in der Westukraine. Im Vordergrund der Czeremosz, im Hintergrund die Schwarzen Berge, die die Grenze zu Rumänien bilden.
Foto: Uwe von Seltmann

Gabriela und ich sind auf den Spuren unserer Großväter unterwegs, die beide im selben Land geboren wurden: Michał Pazdanowski 1903 in einem Dorf südlich von Krakau, der alten polnischen Königstadt, Lothar von Seltmann 1917 in Graz in der Steiermark – unter dem Doppeladler der Habsburgermonarchie waren sie vereint. Sie hielten sich auch später in denselben Städten und Gegenden auf, denn mein Großvater war nach Beginn des Zweiten Weltkriegs ins besetzte Polen gezogen - als SS-Mann war er in Lublin, Krakau, Lemberg und immer wieder auch in den Karpaten. Ich habe sein Leben, das in unserer Familie ein Tabu war, nachrecherchiert und in dem Buch »Schweigen die Täter, reden die Enkel« öffentlich gemacht. Über dieses Buch habe ich Gabriela kennengelernt, in Krakau, in der Stadt, in der mein Vater geboren wurde. Als das Gespräch auf meinen SS-Großvater kam, sagte sie nur: »Oh, my grandfather was killed in Auschwitz.«

Die Enkelin eines Polen, der in Lemberg und im KZ Majdanek bei Lublin inhaftiert war und 1944 in Auschwitz ermordet wurde, und der Enkel eines österreichischen Polen- und Judenmörders sind seit drei Jahren verheiratet – und wir stellen fest: Die Schatten der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart und machen das Zusammenleben nicht unbedingt leichter. Die Vergangenheit wirkt in uns weiter, ob es uns passt oder nicht – auch hier und jetzt in der Huzulei, als Gabriela nachts von fürchterlichen Alpträumen und Angstattacken geplagt wird. »Kann man die Gefühle eines anderen noch einmal erleben und durchleben?«, fragt sie, als sich die Angst wieder legt. Hat sich wieder einmal der Spruch Hermann Hesses bewahrheitet, der als Motto über unserem Projekt steht: »Es kehrt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist«? Es war drei Uhr in der Nacht, als Gabriela erwachte. Und es war drei Uhr in der Nacht, als vor 68 Jahren, am 14. November 1942, unweit von unserem Quartier Gabrielas Großvater von der SS abgeholt wurde und niemals wieder nach Hause zurückkehren sollte. Seine Frau blieb allein, mit drei kleinen Kindern.

 

 

 

Bild entfernt.Wasielina Iwanowna (l.) und Gabriela von Seltmann (r.). Die heute 85-jährige Huzulin hat im Winter 1942/43 Gabrielas Großmutter und deren drei Kinder heimlich mit Lebensmitteln versorgt.
Foto: Uwe von Seltmann

Nach dieser Nacht, in der sich Gabriela »wie ein Stein« gefühlt hatte, unfähig, sich zu bewegen, hilflos und ohnmächtig, wollte sie umgehend abreisen. Doch wir sind geblieben – Gott sei Dank, denn der Tag schenkte uns die unglaublichste und anrührendste Begegnung während unserer nun schon zweijährigen Spurensuche nach Michał Pazdanowski. Es war, als ob der Titel unseres Projekts »Zwei Familien, zwei Vergangenheiten – eine Zukunft « plötzlich Wirklichkeit geworden war: Wir hatten nach einer alten Huzulin gesucht, die im Winter 1942/43 Gabrielas Großmutter und die drei kleinen Kinder heimlich mit Lebensmitteln versorgt und ihnen damit das Leben gerettet hatte. Und jetzt standen wir plötzlich vor ihr – sie lebte noch.

Ohne die Hilfe von Wasielina Iwanowna hätte womöglich Gabrielas Mutter, damals keine zwei Jahre alt, nicht überlebt – und Gabriela würde jetzt nicht mit Pani Wasielina alte Fotos anschauen. Pani Wasielina erkennt alle Personen auf den Bildern sofort wieder - Michał Pazdanowski, seine Frau Izabela, die Kinder. Sie fragt nach deren Schicksal und sagt, dass sie immer gehofft habe, die Pazdanowskis würden zurückkehren. Beim Abschied küsst sie die Hand von Gabriela. Es sei für sie, sagt die 85-Jährige, als ob jemand aus ihrer Familie nach Hause gekommen sei.

 

Uwe von Seltmann, Krakau, 22.07.2010

 

 

Uwe von Seltmann, geb. am 29. Juli 1964 in Müsen/Kreis Siegen, lebt als freier Autor und Publizist in Krakau und Leipzig. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Wien und Tübingen arbeitete er als Journalist u.a. in Berlin, Wien, Dresden und Görlitz. Von 2004 bis 2008 war er Chefredakteur der sächsischen Wochenzeitung »Der Sonntag«. Seit Sommer 2006 lebt er mehr und mehr in Krakau und schreibt v.a. für die Jüdische Allgemeine und Spiegel-Online.

Uwe von Seltmann hat insgesamt sechs Bücher verfasst oder herausgegeben. Er war 2001 Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg und unternahm 2002 eine Literarische  Auslandsreise (Polen und Tschechien) mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Er ist Gründungsvorsitzender des Förderkreises Görlitzer Synagoge e.V. und Mitglied im Verein »Gegen Vergessen – für Demokratie«. 2006 erschien von U.v. Seltmann gemeinsam mit Claudia Brunner das Buch »Schweigen die Täter, reden die Enkel« (Fischer-Taschenbuch).

Uwe von Seltmann recherchiert gemeinsam mit seiner Frau die Geschichte ihrer Familie für eine neues Buch, das im Herbst 2011 erscheinen soll. Weiterdenken unterstützt die Recherchephase und die Publikation und lädt beide zu Lesungen ein, in diesem Jahr in Leipzig und Görlitz.

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