Ortsbegehung - Gedenkwand "Ihnen"

„Hier gab`s mal ein KZ! Wie würden Sie reagieren, wenn Sie das über Ihre Schule oder Ihren Arbeitsplatz erfahren würden? Wir waren erschrocken. Dort, wo jetzt unser Sportplatz ist, befand sich bis in die 1960er Jahre hinein ein Barackenlager, ursprünglich gebaut als eine Außenstelle des KZ Flossenbürg. 1002 jüdische Mädchen und Frauen wurden hier zwischen 1944 und 1945 festgehalten und zur schweren Arbeit für die Nazis gezwungen. Sie mussten in einer Fabrik, hinter dem heutigen Landratsamt auf der Frauensteiner Straße, für die ARADO GmbH arbeiten, die dort unter dem Tarnnamen ‚Freia GmbH‘ Flugzeugteile herstellen ließ. Im April 1945 wurden die Häftlingsfrauen nach einer langen Irrfahrt in das KZ Mauthausen/Österreich deportiert, wo sie durch die Alliierten befreit wurden“.1

Dieser Kommentar bildet die Auseinandersetzung der zwölf Schülerinnen und Schüler des Berufsschulzentrums (BSZ) „Julius Weisbach“ in Freiberg im Schuljahr 2012/13 im Projekt „Ortsbegehung – Stadtrecherchen zu Shoah und Täterschaft“. am eindringlichsten ab. Unsere Projektgruppe betrachtetet die Shoah von der Ausgrenzung bis zur Deportation der Freiberger jüdischen Bevölkerung und setzt uns dann anschließend mit der Verfolgung und Zwangsarbeit verschleppter Jüdinnen und Juden aus Europa auseinander. Während der Recherchen ließ uns die konkrete Geschichte des Schulgeländes nie los. Es tauchten Fragen auf, wer diese verfolgten Mädchen und Frauen waren, wo sie herkamen, ob einige noch am Leben sind und ob wir Kontakt herstellen können. Während der Recherchen zu den verfolgten Jüdinnen verstärkte sich der Wunsch, Überlebende des KZ Freiberg einzuladen und einen dauerhaften Gedenkort an die Verfolgung in Freiberg zu errichten.

Am 10. Dezember 1941 wurde die zwölfjährige Helga Weissová aus Prag nach Theresienstadt deportiert. „Zeichne, was Du siehst!“2, sagte ihr Vater, nachdem sie ihm ein selbstgemaltes Bild in die Männerkaserne geschmuggelt hatte. Helga zeichnete und dokumentierte den Alltag der Menschen im Ghetto. So entstand eines der unmittelbarsten Dokumente der Shoah. Helga Weissová ist eines der Mädchen, die über Auschwitz nach Freiberg deportiert wurden.

Über den Freiberger Lokalhistoriker Michael Düsing konnte eine erfolgreiche Einladung an Helga Weissová und deren Freundin Lisa Miková, ebenfalls Überlebende, ausgesprochen werden und wir hatten eine berührende Begegnung.

Vordergründige Versöhnung zwischen Überlebenden und Täter_innen des Nationalsozialismus lehnte der verfolgte Philosoph Jean Améry Zeit seinesLebens kategorisch ab; seiner Meinung nach müsse die ‚Wunde Auschwitz‘3 gesellschaftlich offengehalten werden. Das Errichten einer Erinnerungswand soll die ‚Wunde Auschwitz‘ verdeutlichen und Freiberg als angeschlossen an Auschwitz, als Synonym für die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, aufdecken.

Die Dresdner Künstlerin Stefanie Busch erstellte einen Entwurf, der das historische Wissen und die Vielfältigkeit der Vorstellungen und Wünsche der Schülerinnen und Schüler auf verschiedenen Ebenen in der Realisierung vereinte. Der zentrale Blickpunkt der Arbeit ist das Wort Ihnen, von dort aus entwickelt sich die Gedenkwand. Das Ihnen spricht einerseits die konkreten verfolgten Mädchen und Frauen an – die Höflichkeitsform Ihnen adressiert sie im Singular und soll sie der Masse der Verfolgten entreißen. Zum anderen adressiert Ihnen die Angehörigen der verfolgten jüdischen Frauen, die mit dieser Vergangenheit in ihren Familien leben mussten und gleichzeitig die Besucher_innen der Zukunft dieses Gedenkortes sind.

Ebenfalls will der Ort die Perspektive der Überlebenden verstärken und mit einem Tagebucheintrag von Helga Weissová, geschrieben im KZ Freiberg 1945, vor Augen führen: „Wenn nicht irgendein Wunder geschieht, halten wir es nicht aus. Hoffentlich ist bald Schluss!“ Das Wort Ihnen und das Zitat sind Tiefreliefs und nehmen dem Gebäude buchstäblich etwas weg.

Eine weitere Ebene verknüpft die europäische Dimension des Verbrechens mit der lokalen. Mit Kohle gezeichnet sind die Höhenlinien des Geländes der Schule am Hammerweg. Wer dort jeden Tag ein und ausgeht, also die Schülerinnen und Schüler, kennt diese Topografie des Schulgeländes. Über der lokalen Topografie liegt eine Zeichnung aus Schulkreide, die die Verfolgungswege der Mädchen und jungen Frauen beschreibt. Deportiert, weg aus den lokalen Ghettos, kommen sie alle in Auschwitz zusammen, dort werden die meisten der Mädchen ihre Angehörigen durch den Mord in den Gaskammern verlieren. Daher verschlankt sich die Kreidelinie am KZ Auschwitz und zeichnet den Weg über Freiberg bis zur Befreiung in Mauthausen nach. Die Linien, die Wege der Verfolgung, verlassen das Bild, sie erstrecken sich über den Bildrand hinaus und verweisen auf eine nicht abgeschlossene und universelle Tat.

Das Denkmal ist in seiner Materialität so zart und fein, besonders für ein Schulgebäude, so dass das Bedürfnis entsteht, es müsse wie eine Wunde geschützt werden. Jede kleine Berührung kann schon zu Schäden führen und bedarf daher besonderen Schutzes.

Eine Postkarte zum Mitnehmen zeigt das Denkmal im Alltag, die Schülerinnen und Schüler passieren die Gedenkwand und werden sie nach einigen Wochen nur noch aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Auf der Rückseite befindet sich ein Text zur Geschichte des KZ Freiberg. So könnensich die Besucher_innen einen Teil des Denkmals mitnehmen und nochmals in Ruhe nachlesen.

Die Shoah und das Erinnern an die Ermordeten und Verfolgten findet sich nicht in unserer Alltäglichkeit. Zu wenig bekannt und markiert ist die Geschichte über die ermordeten jüdischen Nachbar_innen und die im Ort verfolgten Jüdinnen und Juden aus Europa. Interessierte Jugendliche konzentrieren sich daher zuallererst auf eine Platzierung jüdischer Verfolgungsgeschichte im Gedächtnis einer Stadt oder Kommune. Die Jugendlichen in Freiberg versuchten in ihrem Wirken an der Schule besonderes Augenmerk auf die Bedürfnisse der Überlebenden zu legen und Verantwortung zu übernehmen, nicht für eine Nation oder eine Generation, sondern für ihren unmittelbaren Raum des Alltags – die Schule. Das Lebendighalten der „Wunde Auschwitz“ heißt eben auch, dass jede Generation eine eigene und zeitgenössische Form der Auseinandersetzung sucht. Der Raum der Kommune erinnert nicht die lokale Verfolgung: Kaum ein Straßennamen ist den ermordeten jüdischen Nachbar_innen gewidmet, keine Auseinandersetzung findet rund um die KZ-Außenlager und Todesmärsche statt. Somit sind die Verfolgten der Shoah nicht im kollektiven Gedächtnis des Lokalen verankert. Das Denkmal Ihnen verdeutlicht, dass Jugendliche sich für diese verbrecherische Geschichte interessieren und ein Handlungsfeld für die Auseinandersetzung mit den Überlebenden, deren Angehörigen und ihrem sozialen Umfeld suchen.

 

Dokumentationsbroschüre zur Gedenkwand

 

1 Auszug eines Textes von Schüler_innen fürdie Ausstellung Ortsbegehung

2 Weissová, Helga: Zeichne, was Du siehst. Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt, Frankfurt 2001.

3 Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1966.

Stefanie Busch (1977) studierte an der HfBK Dresden bei Prof. Lutz Dammbeck. Sie realisierte bereits verschiedene Kunst-am-Bau-Projekte, u.a. an der Deutschen Botschaft Kiew.

Kontakt: galerie-baer.de