Die Ukraine - auf dem Weg in den Westen?

"Die Ukraine: auf dem Weg in den Westen?“ lautete der Titel der Podiumsdiskussion, die am 9. Dezember 2008 als Veranstaltung der Europa-Reihe von Weiterdenken stattgefunden hat. Auf dem Podium mit Dieter Schütz (Ressortleiter Politik bei der Sächsischen Zeitung/ Moderation) und den beiden Referenten Rainer Lindner (Geschäftsführer Ostausschuss der deutschen Wirtschaft) und Eberhard Schneider (Politikwissenschaft Uni Siegen, SWP Berlin) wurde die Aktualität und Brisanz einer Diskussion über Staus Quo und Perspektiven der Ukraine außerordentlich deutlich.

Innenpolitische Situation, ökonomische Krise und außenpolitische Handlungsunfähigkeit

Innenpolitisch ist die Situation zunächst angespannt aufgrund der Regierungsinternen Machtkämpfe. Die Krise innerhalb des Parteienbündnisses von Wiktor Juschtschenko (Präsident der Ukraine) und Julija Tymoschenko (Premierministerin) ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Tymoschenko gemeinsam mit der Oppositionspartei unter Wiktor Janukowytsch eine Reihe von Gesetzen einbrachte, die die Position und Kompetenzen des Präsidenten zugunsten von Regierungschef und Parlament reduzieren sollten. Der Präsident in der Ukraine hat bisher mehr Vollmachten als der Präsident in der BRD, jedoch weniger als derjenige in Russland, vergleicht Eberhard Schneider. In Folge dieser Überwerfungen kam es im Sommer 2008 auch zu keiner gemeinsamen Erklärung weder zum Georgienkrieg, noch zur Rolle Russlands in diesem Krieg.
Immerhin, so Herr Schneider, es gibt einen Präsidenten (der seit Oktober auch Parteivorsitzender ist); es gibt wieder einen Parlamentspräsidenten (dessen wichtige Funktion in der Unterzeichnung von Gesetzen besteht) und noch existiert ein Parlament, dessen Auflösung jedoch zu vermuten und vorgezogene Parlamentswahlen Anfang 2009 zu erwarten sind. Tymoschenko, die das Präsidentenamt im Oktober 2009 anstrebe, wolle zu diesem Zweck um jeden Preis Regierungschefin bleiben.
Die innenpolitische Spannungslage der Ukraine ist vor allem gegenwärtig auch bedingt durch eine massive ökonomische Krise. Rainer Lindner beschreibt das Land als am Rande des Bankrotts stehend. Mit einer Bilanz von mehreren Milliarden Dollar Auslandsschulden handele sich um eine Krise, die die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im ökonomischen Bereich noch nicht erlebt hat.
Das Land lebt in hohem Maße von dem Export von Stahlerzeugnissen: Stahl trägt 10% zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei und stellt 40% des Gesamtexportvolumens dar. Die Stahlpreise sind im Laufe des Jahres 2008 um die Hälfte gefallen, während die Preise für Gas aus Zentralasien, welches die Ukraine über Russland bezieht, bedeutend anstiegen. Zusätzlich zur allgemeinen Wirtschaftskrise steht der Ukraine also eine massive Energiekrise ins Haus, die durch Fehleinnahmen im Stahlbereich ergänzt und auch durch Defizite im Bereich der Landwirtschaft potenziert werden, so Herr Lindner.
Der außenpolitische Spielraum des Landes wird durch diese ökonomischen Entwicklungen enorm eingeschränkt. Die bisherige Hoffnung sich nun sehr stark in Richtung Westen orientieren zu können scheint obsolet geworden zu sein. Die erhoffte Verabschiedung eines NATO Membership Action Plan für die Ukraine (und für Georgien) wurde nicht vollzogen. Für die Ukraine hängt dies maßgeblich an innenpolitischen Brüchen und Schwierigkeiten, macht Rainer Lindner nochmals deutlich: Es gibt keine Ansprechpartner, die über ein Jahr hinweg Bestand hätten und die auch eine gewisse Nachhaltigkeit der europäischen Politik gewährleisten könnten. Außerdem existieren andere innere Spannungen, die einen Schritt in Richtung Sicherheitsbündnis nicht zweckmäßig erscheinen lassen. Im Moment wäre ein solches Signal Richtung Kiew also verfrüht, zumal es dort sowohl in der Bevölkerung als auch in der politischen Klasse keinen diesbezüglichen Konsens gibt.
Die Beziehungen zu Russland sind nicht nur im Energiebereich, sondern auch im geostrategischen Bereich belastet. Russland würde weder einer Erweiterung der EU und noch weniger derjenigen der NATO in die Ukraine hinein zustimmen. Nun hängt die Perspektive der Ukraine im staatsrechtlichen Sinne nicht von der Zustimmung Russlands ab, denn schließlich handelt es sich um zwei souveräne Staaten, die souverän über ihre außenpolitischen Perspektiven entscheiden könnten. Jedoch, fährt Rainer Lindner einschränkend fort, ist die Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland erheblich. Die Ukraine ist alleine nicht lebensfähig - ohne die Importe sowohl im Öl- und Gasbereich wäre das Land nicht in der Lage seinen Haushalt zu regeln. Zusätzlich erzielt die Ukraine als Transitland hohe Einnahmen durch die Weiterleitung von Erdgas und Ölprodukten.
So kann sich Russland mittels ökonomischer Hebel der politischen Loyalität des Nachbarlandes versichern. Reale Forderungen Russlands nach Außenständen betragen gegenwärtig ca. 2 ½ bis 3 Milliarden Dollar. Diese Nähe sei enger als es der Ukraine lieb ist, aber sie ist so nah wie sie die wirtschaftlichen Zwänge vorschreiben, so Rainer Lindner. Im geostrategischen Bereich ist Russland ebenfalls an einer starken Kontrolle bzw. Einflussnahme in der Ukraine gelegen, was mit Blick auf die Halbinsel Krim deutlich wird. Die Krim als Zankapfel russisch-ukrainischer Beziehungen hat im Zuge des Kaukasuskonfliktes neue Aktualität erlangt. Aus dem Militärhafen von Sewastopol sind Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte ausgelaufen, um im Krisengebiet Georgiens in militärische Sicherheitsleistungen einbezogen zu sein. Dies hat Proteste der ukrainischen Regierung hervorgerufen, die die Kontrolle jeglicher Schiffsbewegungen aus dem Hafen von Sewastopol für sich in Anspruch nimmt. Zwischenzeitlich wurde den ausgelaufenen Schiffen untersagt wieder nach Sewastopol zurück zu kehren, was eine handfeste politische Krise auslöste.
Demnach kommen potenzielle sicherheitspolitische Konfliktlagen zur innenpolitischen Anspannung und ökonomischen Krise in der Ukraine hinzu. Umso wichtiger ist es, dass die EU ihre Beziehungen zur Ukraine entwickelt. „Wir können uns“, so Herr Lindner, „im Grunde kein Scheitern dieses Modells erlauben, denn es geht um ein insbesondere seit der orangenen Revolution vom Westen gefördertes und hervorgehobenes Modell, dass in der postsowjetischen Region eine gewisse Leuchtwirkung erzielen sollte“. Diese sei gegenwärtig jedoch kaum erkennbar. Notwendig war, dass die EU dazu übergegangen ist, über das Nachbarschaftskonzept hinaus, von einer Assoziierungsperspektive zu sprechen, die an bestimmte Kriterien gebunden sein wird – an wirtschaftliche und politische Reformen. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die politische Klasse zu solch einem gemeinsamen Schritt durchringen kann, was sie bisher nicht tut. Deshalb „müssen [wir] also nach wie vor unsere Appelle nach Kiew richten, zu sagen, wenn ihr nicht auf eine nachhaltige politische Entwicklung zusteuert, dann können wir auch keine Beitrittsperspektive in welcher Form auch immer gewährleisten“, sagt Rainer Lindner. Auch ein NATO-Beitritt ist an Bedingungen geknüpft, die derzeit nicht eingelöst werden. Allerdings hat die Ukraine ein gewisses sicherheitspolitisches Anrecht bzw. eine Anspruchhaltung stärker in den westlichen Sicherheitsverband integriert zu werden, da es der einzige Nicht-NATO-Staat ist, der an nahezu allen NATO-Operationen beteiligt ist und Schiffe, Flugzeuge und Truppen in den Krisengebieten dieser Welt stellt. Etwa 4000 ukrainische Soldaten sind derzeit in internationalen Friedenseinsätzen beteiligt. Jedoch bedarf es vor allem der inneren Festigung und Festigkeit sowie eines politischen Willens, den es bisher zu diesem Schritt nicht gibt. Zusammenfassend beschreibt Herr Lindner ein innenpolitisch chaotisch, anarchisches Bild der Ukraine ohne erkennbare Lösungsbereitschaft der beteiligten Akteure, wirtschaftlich eine Situation, die sich am Rande des Bankrotts bewegt und sicherheitspolitisch ein gemischtes Bild, das zwischen langfristiger Perspektive Richtung NATO und EU einerseits und einer stärkeren russischen Einflussnahme schwankt.

Die NATO-Perspektive der Ukraine

Die NATO ist für Russland bis heute Ausdruck des Verlierens im Kalten Krieg und wird als feindliches Bündnis betrachtet, ergänzt Herr Schneider die geostrategische Spannungslage. Mit Aufnahme der Ukraine würde erstmals ein ehemaliger GUS-Staat Mitglied der NATO werden. Damit würde eine rote Linie überschritten und entsprechende Konsequenzen folgen. Im Falle einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre bspw. mit der Forderung zur Aufnahme in die russische Föderation durch die Krim zu rechnen, deren Bevölkerung zu über 50% russisch ist. Erforderlich wäre eine Absprache und Abstimmung mit Moskau über die mögliche Aufnahme der Ukraine in die NATO sowie die Verhandlung einer Gegenleistung für Russland – bspw. die Aufnahme Russlands als politische Organisation in die NATO, so der eigene Vorschlag von Eberhard Schneider.
Eine militärische Konfrontation sei in den kommenden Wochen nicht zu erwarten. Die Ukraine ist zwar eine voll ausgerüstete Streitkraft, militärisch hat sie jedoch nicht die Kapazität um an die NATO-Kriterien heranzureichen. Bspw. bekommt die  ukrainische Luftwaffe jährlich nur 30 bis 40% des Treibstoffs zu Verfügung gestellt, den sie eigentlich bräuchte um das Minimum an Flugstunden absolvieren zu können, das vorgeschrieben ist um bestimmte Lizenzen zu behalten. Der Zustand der Armee ist relativ schlecht, dennoch stark genug um eine massive Krise auslösen zu können – realistisch genug wäre man jedoch, um es dazu nicht kommen zu lassen, meint Herr Lindner.
Der Vertrag, der zwischen der Ukraine und Russland über die Schwarzmeerflotte existiert endet im Jahr 2017. Alles was mit einem NATO-Beitritt der Ukraine zu tun hat, sollte daher nicht vor diesem Datum diskutiert werden, so auch Herr Lindner. Die Ukraine würde vertragsbrüchig, weil die russische Schwarzmeerflotte auf NATO-Territorium stationiert sein würde.
Nun wurde die Ukraine nicht formal in den NATO Membership Action Plan (MAP), der die Vorstufe zur Mitgliedschaft darstellt, aufgenommen. Die NATO hat hingegen beschlossen, Jahresprogramme zu verabschieden, die die Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft vorbereiten. Damit wurde zunächst, so Herr Schneider, eine diplomatische Lösung gefunden.
Auswirkungen des Georgienkonflikts für die Ukraine
Der georgische Präsident Micheil Saakaschwili hat auch der Ukraine einen Bärendienst erwiesen, meint Herr Lindner. Für deren Weg in Richtung Westen war der Georgienkonflikt keineswegs förderlich. In der Ukraine selbst ist die kriegerische Auseinandersetzung in Georgien als eine Zäsur wahrgenommen worden. Ein Großteil der Bevölkerung will nicht die ukrainischen Beziehungen zu Russland aufs Spiel gesetzt wissen, noch durch eine beschleunigte NATO-Perspektive ähnliche Reaktionen Russlands hervorrufen wie sie nun in Georgien zu Tage getreten sind. Die Zahl der Skeptiker einer NATO-Perspektive ist wohl eher noch gewachsen.
Landwirtschaft in der Ukraine
Die Landwirtschaft beschreibt Herr Lindner als das Hauptproblemkind der ukrainischen Wirtschaft. Gegenwärtig haben die ausfallenden Transportkapazitäten, Benzinknappheit und fehlende Löhne dazu geführt, dass 60% der Wintersaat nicht eingebracht worden ist. Entsprechende Ernteausfälle und negative Konsequenzen sind für Frühjahr und Sommer zu erwarten. Dabei handelt es sich um eine Region, die aufgrund der Böden für eine effiziente Landwirtschaft bestens geeignet wäre. Die zweite Kollektivierungswelle der 1930-er Jahre hatte die Westukraine nur zum Teil erfasst und erklärt die rückständige Ladwirtschaft in dieser Region. Aber die zu großen landwirtschaftlichen Betriebe in anderen Regionen der Ukraine stehen ebenfalls vor Problemen – auch im landwirtschaftlichen Sektor ist ein praktikabler Mittelweg noch nicht gefunden worden.

Streit der Geschichte

Zu den politischen, ökonomischen, sicherheitspolitischen und militärischen Dimensionen der derzeitigen Spannungslage kommt eine starke Krise der Vergangenheiten hinzu, ergänzt Herr Lindner. Die Hungerkatastrophe der 1930-er Jahre ist gegenwärtig in Form zahlreicher Gedenkveranstaltungen präsent. Unterschiedliche Perspektiven, Wahrnehmungen und Bewertungen dieses historischen Ereignisses existieren auf ukrainischer und russischer Seite und bedingen einen Streit der Geschichte. Hinzukommen traurige Jubiläen der Anfänge des 2. Weltkrieges im Jahr 2009, die erneute Konflikte und Zündstoff liefern, wenn es um Aufarbeitung dieser Vergangenheiten gehen wird.
Lebensstandard und soziale Realität in der Ukraine
Bis zur gegenwärtigen Krise hatte die Ukraine ein Wirtschaftwachstum von 7 bis 8 %. Herr Schneider beschreibt dies als bemerkenswert, da die Ukraine selbst kein Gas oder Öl zum exportieren hat, und schließt auf eine relativ breite wirtschaftliche Basis des Landes.  Einen Aufwärtstrend und gewissen Optimismus hat es bis August/ September 2008 gegeben. Nun werden keine Gehälter mehr bezahlt, es gibt keine Aufträge aus dem Ausland und ohne die Zahlung der Summe von 16 Millionen Dollar durch den Internationalen Währungsfond (IWF) wäre die Ukraine bereits Bankrott.
Die Lage in der Ukraine ist in den vergangenen 2 bis 3 Monaten nochmals schwieriger geworden, betont auch Herr Lindner. Das Wachstum des BIP hat sich, abgesehen von einem insgesamt linearen Anstieg auf sehr geringem Niveau, nicht auf die Bevölkerung niedergeschlagen. Gleichzeitig haben aber Mieten und Immobilienpreise in Kiew eine exorbitante Höhe erlangt und sind vergleichbar mit jenen in London, Paris oder München. Eine gewisse Normalisierung der Preise zeigt sich in der aktuellen Krise, aber ebenfalls auf hohem Niveau. Dies ist eine Langzeitfolge der ungleichen Modernisierung und individuellen Bereicherung.
Korruption und Oligarchie in der Ukraine
Korruption stellt eine nach wie vor große Herausforderung für die ukrainische Entwicklung dar. Herr Schneider äußerte sich skeptisch, ob einer baldigen Änderung. Bedienstete der öffentlichen Hand vergeben Lizenzen, die ökonomisch interessant sind. Gehälter sind gleichzeitig äußerst gering und das professionelle Niveau im öffentlichen Dienst generell mangelhaft.
Einst war die Ukraine die Kornkammer Europas. Aus den ukrainischen Schwarzerdegebieten kamen zur Zeit des untergehenden Zarenreiches über 60% des Getreideexportes; das selbe gilt für die Schwerindustrie; Odessa wurde bekannt durch den Baumwollhandel; es gab andere Zentren, die eine Blütezeit kannten. Im Bereich der Rüstungsindustrie und im Flugzeugbau erlangt die Ukraine noch heute Weltniveau.
Falsch gelaufen ist jedoch, so Herr Lindner weiter, dass sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kein privates Unternehmertum sondern ein privates Oligarchentum entwickelt hat. Die großen Betriebe der Sowjetzeit gingen nicht in die Betriebe von sorgsam wirtschaftenden Unternehmern über sondern in die Hände von Oligarchen, die hauptsächlich an ihrer eigenen massiven Bereicherung gearbeitet haben. Heute stehen auf der Liste der reichsten Männer Osteuropas (ohne Russland) sechs ukrainische Oligarchen auf den Plätzen 1 bis 10. Die Oligarchisierung hing mit der Existenz von Öl- und Gasleitungen und der Stahlindustrie zusammen – es gab dort etwas zu verteilen bzw. etwas zu beanspruchen, was in den ostmitteleuropäischen Ländern weniger der Fall gewesen ist. Es ist schwierig an Oligarchen vorbei zu agieren, die gesamte Regionen kontrollieren. Rinat Achmetow ist der reichste Mann der Ukraine mit einem  Besitz von mindestens 20 Milliarden Dollar. Die ukrainischen Oligarchen haben jedoch gelernt, sich nicht ausschließlich an Russland zu orientieren, sondern ihr Vermögen auch in den westlichen Geldkreislauf einzubringen – […] „dass sie damit auch im Westen auf die Nase fallen können haben sie gerade erlebt“, spottet Herr Lindner.

Handlungsoptionen und Interessen externer Akteure

Es besteht kein Interesse auf europäischer oder deutscher Seite, die ukrainische Abhängigkeit von Russland zu reduzieren, da bspw. Deutschland selbst von Russland abhängig ist und ein großer Teil der Energie über die Ukraine bezogen wird. Wichtig ist zu vermitteln, so Herr Lindner, dass die Ukraine zukünftig insgesamt eine Diversifizierung ihrer Energieressourcen anstrebt (d. h. eigene Versorgungsleitungen aus Kasachstan oder dem kaspischen Raum aufbaut).
Wichtig sei es Investitionen in die Ukraine zu erweitern und angesichts der aktuellen Krise zu verhindern, dass sich Investoren aus dem Land zurückziehen. Deutschland ist innerhalb der EU ein wichtiger Investor in der Ukraine - ca. 500-600 deutsche Unternehmen sind mit entsprechenden Repräsentanten und lokalen Vertretern in der Ukraine aktiv.
Kurzfristig gilt es über den Winter zu helfen, d.h. eine weitere finanzielle Stabilisierung durch internationale Finanzinstitutionen zu gewährleisten um ansteigende Energiekosten aufzufangen, Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst zu bezahlen und zumindest einen Teil der Schulden an Russland zu begleichen.
Sehr schnell muss dann eine politische Lösung für die Situation gefunden werden. Herr Lindner nennt die Gründung eines Gaskonsortiums als Institution aus Ländern wie Russland, Zentralasiens, den Transitstaaten wie die Ukraine und den Abnehmerländern wie die der EU um einen Krisenmechanismus in Form eines Frühwarnsystems aufbauen zu können.
Langfristig ist es vor allem notwendig von europäischer Seite die Zusammenarbeit mit der Ukraine zu sichern und auszubauen.

Europaorientierung vs. Russlandverbundenheit in der ukrainischen Bevölkerung

Die Frage der Befürwortung einer EU- bzw. NATO-Mitgliedschaft in der ukrainischen Bevölkerung stellt auch eine Generationsfrage dar, beschreibt Rainer Lindner anhand seines Besuchs zweier Universitäten im östlichen Landesteil der Ukraine. Der Donbas, welcher Stahl- und Kohlerückrat des Landes ist, tendiere seit jeher in Richtung Russland und in der älteren Generation dominiere eine deutlich antiwestliche Haltung. Doch trifft das nicht für die jüngere Generation zu, die überraschend deutlich nach der zeitlichen Perspektive für die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU fragt. Diese Generation ist an einer langfristigen Orientierung der Ukraine nach Westen interessiert und kann mit Autonomie- bzw. Angliederungsbestrebungen ihrer Region an Russland wenig anfangen. Insofern existiert hier auch eine positive Stimmung und Unterstützung des europäischen Kurses, die langfristig einen Prozess der Normalisierung erwarten lassen: „Gerade dann wenn wirtschaftliche Krisen wie wir sie momentan erleben überwunden werden können und vielleicht auch ein Generationswechsel in der Politik eintritt – auch das ist ein wichtiger Faktor: eine jüngere Generation, die sich unabhängiger macht von den bisherigen festen politischen […] Lagern und stärkere Mittelwege sucht – gibt es eine Option für politische Beruhigung und gewisse nachhaltige Entwicklung des Landes“ (Rainer Lindner).
Wie realistisch ist eine Aufnahme der Ukraine in die EU?
Die EU und Russland sind Konkurrenten in der Nachbarschaftspolitik, sind politische Konkurrenten um diese Region, betont Eberhard Schneider. Für notwendig hält er zunächst einen Dialog über die Region unter Einschluss der Beteiligten. Russland sei vor allem  daran gelegen ernst genommen zu werden von den USA und von Europa,  Russland wolle als gleichwertiger Partner anerkannt werden und Gehör für seine Interessen finden.
Es ist zu früh für Spekulationen über die Aufnahme der Ukraine in die EU, findet Herr Lindner. Probleme existieren gegenwärtig mit den jüngeren EU-Mitgliedern Rumänien, Bulgarien und auch Ungarn. Diese Probleme bzw. Länder sind zwar von der EU noch nicht verdaut, dennoch sei es wichtig, dass sie Teil der EU geworden sind. Sowohl die EU als auch die Ukraine werden sich verändern müssen, wenn es zu einem Beitritt kommen soll. Aber langfristig wird man um diesen Schritt nicht umhin kommen – langfristig heiße eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine in 20 bis 30 Jahre.
Herr Schneider plädiert eher für eine Zwischenform partieller europäischer Integration der Ukraine. Der Prozess des EU-Beitritts stelle ein Land ohnehin völlig auf den Kopf. Viel leichter sei es hingegen in die NATO aufgenommen zu werden. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) stelle außerdem einen Weg für Nicht-EU-Mitgliedsstaaten dar sich zu beteiligen – die Ukraine könnte bspw. stärker in diesen Bereich einbezogen werden.
Wird die Ukraine also in 20 Jahren Mitglied der EU sein?
Rainer Lindner: „ja“; Eberhard Schneider ist skeptischer: eher nein.

Zusammengefasst 

Die Ausgangsfrage der Veranstaltung nach der Orientierung der Ukraine in Richtung Westen und ihrer Integration in EU und NATO wurde von den Referenten zwar als wünschenswert, gegenwärtig oder kurzfristig jedoch als nicht realistisch eingeschätzt. Bedingungen für eine Mitgliedschaft werden derzeit in beiden Fällen nicht erfüllt, die Beziehungen zu Russland sind angespannt und Konsequenzen sind im Falle einer schnellen EU-/ NATO-Annäherung von russischer Seite zu erwarten. Die Abhängigkeit von Russland (insbesondere bei der Energieversorgung) ist hoch. Schließlich besteht kaum Einigkeit bezüglich einer EU- und NATO- Integration des Landes weder innerhalb der Bevölkerung noch auf Ebene der politischen Klasse – vor allem letztere ist Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung einer Integrationsperspektive. Langfristig, dies betonte Rainer Lindner, wird die Ukraine jedoch Mitglied der EU werden. Hierzu gäbe es keine Alternative, wenn der „Westen“, wenn Europa mit seinem Modell ernst genommen werden möchte. In verschiedener Hinsicht ist mit einem Generationswechsel, auch auf politischer Ebene, eine Normalisierung und Entspannung der Situation zu erwarten und zu erhoffen. Momentan gilt es jedoch auf die gegenwärtigen massiven Krisenerscheinungen zu reagieren: kurzfristig durch internationale Finanzhilfen; mittel- und langfristig insbesondere durch eine kontinuierliche und nachhaltige Strategie der EU für die Ukraine.      

 

Bild entfernt.

Podium mit Eberhard Schneider, Dieter Schütz und Rainer Lindner (v.l.n.r.)

Autorin dieser Dokumentation ist Lisa Schlegel. Sie hat Afrikanistik an der Universität Leipzig und der Politikwissenschaft an der Universität Leipzig und Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg studiert und arbeitet als Freie Mitarbeiterin für Weiterdenken und betreut dabei die Veranstaltungsreihe zu europapolitischen Fragen. Seit Dezember 2008 ist Lisa Schlegel wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Afrikanistik, Universität Leipzig.