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«Die Corona-Krise zeigt die Verachtung gegenüber dem Leben»

Die Corona-Krise ist in Brasilien angekommen. Der Präsident leugnet die Gefahren, doch die arme Bevölkerung könnte hart getroffen werden. Darüber hat Sofia Bazin mit Marilene de Paula, Heinrich-Böll-Stiftung Rio de Janeiro, gesprochen.

Eine Schwarze Frau protestiert gegen Jair Bolsonaro. Sie hat einen Sticker auf ihre Wange geklebt, auf dem steht "ele não", das bedeutet "Er nicht".
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Protest gegen Jair Bolsonaro unter dem Motto "Ele não", das bedeutet "Er nicht!"

Wie würdest Du die Atmosphäre in Rio de Janeiro in den letzten Wochen beschreiben? Wie genau hat das Aufkommen von COVID-19 den Alltag der Cariocas (Bewohner:innen Rio de Janeiros) beeinflusst?

Laut den Zeitungen sinkt die Rate der Personen, die den Regeln des Abstand-Haltens nachkommen. In den am meisten betroffenen Regionen Rio de Janeiro und São Paulo liegt die Rate bei etwa 55 Prozent, idealerweise würden 70 Prozent den Abstand einhalten. In den Arbeitervierteln, in denen ein großer Anteil der Armen der Stadt lebt, liegt diese Rate noch niedriger.

Die Leute sind auf der Straße wegen ihrer Arbeit oder zum Einkaufen in den Läden, die noch geöffnet bleiben dürfen. Da der Höhepunkt an Infektionen hier noch nicht erreicht ist, stellt sich ein falsches Gefühl von Normalität ein. Trotzdem bleiben alle nicht notwendigen Läden geschlossen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind eingeschränkt und nur für Leute, die notwendigen Tätigkeiten nachgehen, oder Schüler:innen nutzbar.

Es gab kürzlich Proteste gegen und für den Umgang der Regierung mit der COVID-19-Krise. Polarisiert die Corona-Krise Deiner Meinung nach die brasilianische Gesellschaft?

Die politische Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft ist schon seit der Wahl 2014 präsent, steigerte sich während des Amtsenthebungsverfahrens (gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff) und hat sich durch die Wahl 2018 weiter verstärkt. Es gibt in vielen Gegenden tägliche Proteste gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro, besonders in den Stadtvierteln der Mittelschicht. Dies zeigt eine steigende Unzufriedenheit mit seinem Umgang mit der COVID-19-Krise. Allerdings zeichnen sich keine substantiellen Veränderungen in der Führung des Landes ab. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass viele Leute Bolsonaro in einer Welle des Anti-Petismus(*) gewählt haben, der damals sehr wirkmächtig war.

Jair Bolsonaro, Präsident Brasiliens, bezeichnet COVID-19 weiterhin als “kleine Grippe” und lehnt die meisten empfohlenen Maßnahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab. Was könnten Deiner Meinung nach die gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen einer unkontrollierten COVID-19-Epidemie in Brasilien sein?

In einem Land mit einem hohen Level von sozialen Ungleichheiten wie Brasilien wird eine COVID-19-Krise die Bevölkerung in vieler Hinsicht hart treffen. Es ist mit vielen Verlusten von Menschenleben, einem Anstieg der Prekarisierung von Arbeit sowie Arbeitslosigkeit und erhöhter Armut zu rechnen.

Die COVID-19-Krise macht auch deutlich, dass jahrelange Kürzungen im brasilianischen öffentlichen Gesundheitssystem (eine Erungenschaft der Verfassung von 1988) eine falsche Entscheidung waren. Im Jahr 2016 wurde die Verfassungsänderung der Ausgabenobergrenze genehmigt, die die öffentlichen Investitionen für 20 Jahre einfror und die Gesundheit und Bildung ernsthaft beeinträchtigt.

Ein weiteres Problem neben dem medizinischen ist der Rückgang oder der vollständige Verlust des Einkommens – hauptsächlich informeller Arbeiter:innen, die heute 40 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmachen. Um dieses Problem zu verringern, hat die Regierung eine dreimonatige Nothilfe für die Betroffenen eingerichtet, die jedoch der Höhe der Nachfragen, die während und nach der Pandemie nötig sein werden, nicht gerecht wird.

Welche Lösungsansätze hat die Zivilgesellschaft trotz der fehlenden staatlichen Maßnahmen?

Die Zivilgesellschaft leistet ganze Arbeit. Sie klärt zu Präventionsmaßnahmen auf und berichtet über COVID-19 Fälle und darüber, wie die am stärksten betroffene Bevölkerung Zugang zu den von der Regierung beschlossenen Nothilfepaketen erhalten kann. Das sind z.B. die Bewohner:innen der Favelas, die Arbeiterklasse, die indigene Bevölkerung, Schwarze und Frauen aus der Arbeiterklasse, die in der Kinderbetreuung sicherlich an vorderster Front stehen sowie ältere Menschen und ihre Familien. Es gibt viele Beispiele für Kollektive und Organisationen, die in den Favelas von Rio de Janeiro arbeiten und Lebensmittel und Hygieneartikel sammeln. Auf der Instagram-Seite der Heinrich-Böll-Stiftung teilen wir Information zu diesen Initiativen.

Darüber hinaus analysieren und fordern soziale Organisationen und Bewegungen weitere Hilfsmaßnahmen der Regierung, zusätzlich zu den bereits getroffenen. Wir hoffen auch, dass die kritische Debatte um das aktuelle Entwicklungsmodell an Fahrt aufnimmt, das in einigen Ländern enorme gesundheitliche Risiken für Menschen und Umweltschäden zur Folge hat, wie die Krise von COVID-19 deutlich zeigt.

Zum ersten Mal in der brasilianischen Geschichte haben sich die Gouverneure der Regionen Rio de Janeiro und São Paulo gegen die Entscheidungen des Präsidenten gestellt und haben regionale Ausgangssperren eingeführt. Könnte es Deiner Meinung nach als Andeutung einer Destabilisierung  der Macht Bolsonaros verstanden werden?

Die Gouverneure von Rio de Janeiro und São Paulo haben bei den Wahlen 2018 eindeutig den Bolsonaro-Wahlkampf benutzt, sie waren nie wirklich Unterstützer. Daher ist es nicht überraschend, dass sie die Entscheidung getroffen haben, den Präsidenten zu ignorieren.

Die Regierung Bolsonaro spielt mit einer ständigen und scheinbaren Destabilisierung. Sie will damit die politische Agenda kapern und in den sozialen Netzwerken präsent sein. Damit sollen seine Anhänger und «Follower» gestärkt werden, während er gleichzeitig seine Agenda von Reformen und Wirtschaftspaketen fortsetzt.

Es ist noch zu früh um sagen zu können, ob sich die Regierung Bolsonaro in einem echten Destabilisierungsprozess befindet. Tatsächlich sind die Widersprüche offensichtlich. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die evangelikale parlamentarische Allianz und die fundamentalistischen evangelikalen Führungsfiguren immer noch an der Seite der Regierung stehen und einen großen Einfluss auf die Wählerschaft haben. Es ist auch noch nicht klar, ob die Gruppe von Militärangehörigen, die ihn unterstützt, innerhalb des Militärs an Macht verliert.

Was sagt die COVID-19 Krise allgemein über die Lage der brasilianischen Demokratie aus?

Die Krise von COVID-19 zeigt, wie sehr eine aktive Zivilgesellschaft der Schlüssel zur Förderung der Demokratie ist. Die Organisationen und Bewegungen in Brasilien positionieren sich und fordern eine Sozialpolitik von den Regierungen, zusätzlich zu ihrer humanitären Hilfsarbeit in dieser Zeit.

In den letzten Jahren haben wir jedoch gesehen, dass fundamentalistisch-konservative Kräfte gewachsen sind und sogar die Rückkehr der Diktatur forderten, die in Brasilien etwa 20 Jahre (1964-1985) dauerte. Deutliche Rückschläge gibt es bei der Umwelt- und Menschenrechtspolitik. Die Coronavirus-Krise hat auch die Verachtung gegenüber dem Leben deutlich gemacht, die in der Redeweise der staatlichen Behörden, darunter Präsident Jair Bolsonaro, zum Ausdruck kommt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Marilene de Paula ist Programm- und Projektkoordinatorin der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien, im Bereich Menschenrechte. Sie ist Historikerin an der Staatlichen Universität Rio de Janeiro (UERJ) und hat einen Master-Abschluss in Kulturgütern und Sozialprojekten der Fundação Getúlio Vargas (FGV). Sie arbeitete in zivilgesellschaftlichen Organisationen und veröffentlichte Bücher und Artikel in den Bereichen Menschenrechte und Demokratieförderung mit Schwerpunkt auf Geschlecht, ethnische Beziehungen und Polizeigewalt.

Interview und Übersetzung aus dem Portugiesischen: Sofia Bazin, Studentin der Politikwissenschaft, Praktikantin bei Weiterdenken

(*) Der Anti-Petismus hat seinen Namen von der Arbeiterpartei «PT» (Partido dos Trabalhadores), gegen die er sich richtet. Anti-Petismus ist ein dominanter politischer Diskurs basierend auf der Idee, dass die PT für alle negativen Entwicklungen der brasilianischen Gesellschaft verantwortlich ist. Dieser Diskurs wurde von den konservativen rechten Bewegungen verbreitet und war 2015 während der Absetzung von Präsidentin Dilma und 2018 während der Wahlen besonders prägend. zurück