Die türkische Regierung ist mit ihrer Entscheidung, die Grenze nach Griechenland zu öffnen, ein großes Risiko eingegangen: Die Öffnung könnte die Beziehungen zur EU, nach Syrien und auch Russland stark beeinflussen.
Die Türkei steht in Syrien unter Druck. Die im Sochi-Abkommen vom September 2018 vereinbarte Deeskalationszone um Idlib, die die Türkei mit zwölf Beobachtungsposten gesichert hat, wird durch die Regimeoffensive auf die Enklave hinfällig. Bevor die Türkei Ende letzter Woche ihre Angriffe auf Truppen des Assad-Regimes startete, waren bereits acht der Vorposten überrannt worden. Aus türkischer Sicht ist der Erhalt der Deeskalationszone eine Verpflichtung der Vereinbarung – Russland hingegen besteht darauf, dass die vollständige Umsetzung des Deals eine Entwaffnung verschiedener Rebellengruppen, aber vor allem der jihadistischen Hayat Tahrir ash-Sham (HTS) vorsieht. Der türkische Geheimdienst (MIT), der für den Großteil der türkischen Operationen in Syrien verantwortlich zeichnet, hat in den letzten anderthalb Jahren erfolglos versucht, HTS als dominanten militärischen Akteur in Idlib zu verdrängen. Jetzt, da die Türken dies offensichtlich nicht geschafft haben, versucht man diejenigen bei HTS, von denen man davon ausgeht, dass sie keine transnationale-jihadistische Agenda verfolgen, aus der Bewegung herauszulösen.
Für die Türkei steht dabei einiges auf dem Spiel: Seit dem Beginn der Offensive haben sich rund eine Million (948.000) Binnenvertriebene auf der Flucht vor dem Regime in die Nähe der türkischen Grenzen begeben, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen ausharren. Die Sorge der Türkei ist: Sollte das Regime die Idlib-Enklave vollständig überrollen, wird der Druck auf die Grenzen nicht zu stemmen sein. Die türkische Wirtschaft hatte, selbst als sie noch nicht in einer tiefen Krise war, schlicht nie das Potential 3.6 Millionen Menschen zu integrieren. Bei einer gleichzeitig hohen Arbeitslosenrate unter Türkinnen und Türken von 13 Prozent (die verdeckte Arbeitslosigkeit ist durch einen großen informellen Sektor vermutlich sehr viel höher) haben im Land Ressentiments und Übergriffe gegen Geflüchtete und Migrant/innen stark zugenommen.
Und noch ein Punkt ist relevant für Ankara: Das EU-Türkeiabkommen von 2015 hat zwar theoretisch noch eine Laufzeit bis 2025, im aktuell diskutierten EU Haushalt sind aber schon ab Frühling 2021 keine Mittel mehr dafür vorgesehen – die türkische Angst, hier Schaden zu nehmen ist also entsprechend gering. Da die EU bislang keine weiteren Finanzzusagen gemacht hat und selbst Kanzlerin Merkel bei ihrem letzten Besuch diesbezüglich nur vage Unterstützung versprach, glaubt Ankara, dass es sich vielleicht doch lohnt, die EU nochmal an die Notwendigkeit ihres Engagements zu erinnern. Notfalls auch mit der Pistole auf der Brust.
Eine Instrumentalisierung von Migrant/innen und Geflüchteten
Das ist der Hintergrund, vor dem die aktuelle Drohung Präsident Erdoǧans gegen die EU beziehungsweise im speziellen Fall gegen Griechenland erfolgt. Seit Freitagmittag berichteten staatsnahe Medien davon, dass die Türkei ihre Grenzen geöffnet habe - Busse, die zum Teil von Gemeinden bezahlt wurden, brachten Menschen kostenlos an die griechische Grenze bei Edirne. Nach Augenzeugenberichten handelt es sich dabei zumeist nicht um Syrer/innen, sondern um Iraker/innen, Afghan/innen und Personen aus anderen Staaten. Es sind also gerade die Menschen, die nicht vom EU-Türkei-Deal erfasst werden und für die es in der Türkei weder Sozialhilfe, legale Arbeit noch irgendeine Möglichkeit gibt, Asyl zu beantragen. Für sie war es ein Schock an der Grenze festzustellen, dass nur die türkische Seite geöffnet ist. Selbst die wenigen hundert Personen, die die Grenzbefestigung überwinden konnten, wurden von der griechischen Polizei festgesetzt, zum Teil misshandelt und ihrer Besitztümer beraubt, bevor sie zurück in die Türkei gebracht wurden. Dort sind sie nun gestrandet, da ihnen selbst das Geld für ein Busticket fehlt.
Anders als von türkischer Seite angegeben ist es allerdings nicht zu einer Massenbewegung an der Grenze gekommen. Laut der Internationalen Organisation für Migration IOM befinden sich insgesamt ca. 13.000 Menschen im Grenzgebiet, davon ca. 4.500 laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD unmittelbar im Niemandsland zu Griechenland. Augenzeug/innen berichten davon, dass es in Wirklichkeit sehr viel weniger Menschen sein könnten und einige, die noch Mittel dafür haben, sich schon auf den Rückweg machen. Interessant ist hier auch, dass die türkische Seite die Menschen nur nach Griechenland lenkt. Der nur wenige Kilometer entfernte Übergang nach Bulgarien bleibt geschlossen – sicher nicht nur, weil Bulgarien kein Schengen-Staat ist, sondern vor allem, weil dies die Haupttransitstrecke für den türkischen Warenverkehr in die EU ist.
Was bezweckt die Türkei?
Die derzeitige türkische Regierung hat eine zweifelsohne seltsame Art, Diplomatie zu betreiben. In Ankara hat sich über die Jahre hinweg die Vorstellung festgesetzt, dass Druck die einzige Möglichkeit darstellt, den Westen zum Handeln zu bewegen. Damit hat man sicher nicht ganz Unrecht, wenn man sich ansieht, dass gerade in Bezug auf Syrien und Geflüchtete in den letzten neun Jahren nur halbgare Lösungsvorschläge aus Brüssel zu vernehmen waren und gleichzeitig, bei großer Kritik am innenpolitischen Abbau der türkischen Demokratie, selten für die Türkei schmerzhafte Konsequenzen, wie etwa ein Zurückfahren der wirtschaftlichen Zusammenarbeit erfolgt sind. Die Überzeugung ist: Der Westen ist stärker auf uns angewiesen, als wir auf ihn. Das mag mit der Realität nichts zu tun haben, die Selbstverzwergung europäischer Außenpolitik hat aber wenig dazu beigetragen, diesem Bild etwas entgegenzusetzen. Das Vorgehen der Türkei ist daher auch der Versuch in einer asymmetrischen Machtsituation, in der eigentlich die meisten Trümpfe auf Seiten der Europäer liegen, die Oberhand zu gewinnen. Auch das ein Verfahren, auf dem die türkische Außenpolitik seit Jahren basiert.
In Bezug auf Idlib steht die Türkei mit dem Rücken an der Wand. Ihr durchaus sehr erfolgreicher Drohnenkrieg, der in den letzten Tagen die syrische Luftwaffen zu und auf den Boden gezwungen hat, war nur möglich, weil Russland der Türkei offenbar eine Art Entschädigung für ihre mutmaßlich durch einen russisch-geführten Luftschlag ums Leben gekommenen Soldaten gewähren wollte. Die türkische Seite, die sich öffentlich mit Kritik an Russland zurückhält – auch wenn man als Abschreckungsmaßnahme zwischenzeitlich JournalistInnen des Kreml-nahen Senders „Sputnik Türkei“ kurzfristig festnehmen ließ – ist der Ansicht, dass auch Moskau gegenüber nur Druck hilft. Nur wenn das Assad-Regime und die russische Armee den Eindruck haben, dass Ankara ihnen in Idlib ernsthaft etwas entgegensetzen kann, wird Putin zu einer Verhandlungslösung bereit sein.
Wie genau diese aber aussehen kann, ist ungewiss. Die Türkei fordert ein Festhalten an den Vereinbarungen von Sochi und auch Moskau lässt inzwischen verlautbaren, dass es zu einer vollständigen Implementierung zurückkehren will. Aus türkischer Sicht hieße das: ein kompletter Rückzug der syrischen Armee hinter die türkischen Beobachtungsposten und v.a. Aufgabe der wichtigen Schnellstraße M5, die Damaskus und Aleppo verbindet, durch das Regime. Aus russischer Sicht geht es vornehmlich um eine Entwaffnung von HTS und anderen Gruppen.
Beides scheint nicht realistisch zu sein, denn Russlands Strategie zu Syrien unterscheidet sich fundamental von der türkischen: Moskau will, dass Assad die volle Kontrolle über das Land wiederherstellt, bevor über einen Endstatus verhandelt wird. Die Türkei hingegen, wohl ahnend, dass nur ihr Einfluss in Idlib ihr überhaupt ein Mitspracherecht in Syrien sichert, will sich darauf nicht einlassen. Und auch wenn Russland offiziell ein Verbündeter der Türkei ist, so braucht Ankara doch die Rückendeckung des Westens, um Russland eine ausreichende Drohkulisse zu präsentieren. Eine Internationalisierung des Konflikts ist daher ganz im türkischen Sinn.
Dabei ist allerdings unklar, welche Rolle man den Europäern zugedacht hat. Dass diese ohne amerikanische Rückendeckung militärisch in Syrien aktiv werden wäre ein Novum und eine Hoffnung, die sich die letzten acht Jahre nicht erfüllt hat. Selbst die Absicherung einer durchaus auch humanitär sinnvollen Flugverbotszone erfordert die Stationierung eigener Luftstreitkräfte oder zumindest von Luftabwehrsystemen. Diese könnten zwar ggf. auf türkischem Territorium positioniert werden, hätten aber im Notfall auch die Aufgabe, russische Bomber zu bedrohen.
Eine andere Möglichkeit ist daher Ankaras Wunsch, die Europäer mögen Druck auf die USA ausüben, doch dies scheint bisher nicht passiert zu sein. Bleibt für Europa als Letztes ein starkes humanitäres Engagement direkt an der Grenze. Auch hier ist allerdings die Frage, ob man sich dabei ausschließlich auf eine Absicherung des Einsatzes durch türkisches Militär verlassen möchte. Problematisch ist dabei weniger die Schlagkraft der türkischen Armee, sondern die starken Eigeninteressen der Türkei im zum Teil kurdisch dominierten Grenzgebiet.
Was kann man tun?
Idlib stellt weiterhin ein Dilemma dar. Es steht außer Frage, dass die Ursache der aktuellen Krise in erster Linie in Syrien zu finden sind - das aggressive Vorgehen der Türkei ist ein Problem, aber eben auch teilweise eine Auswirkung der ungelösten Tragödie in Syrien. Es ist selbst mit viel militärischem Engagement nur schwer vorstellbar, dass an diesem Punkt der Verlauf des Krieges seit 2015 zurückgedreht werden kann. Was die Türkei in Aushandlung mit Russland anstreben kann, ist daher maximal eine temporäre Lösung. Die Gefahr ist groß, dass diese genauso brüchig sein wird wie das Sochi-Memorandum. Sowohl Russland als auch die Türkei sind allerdings grundsätzlich an einer Lösung interessiert– die Vorstellung, dass man Ankaras außenpolitische Geisterfahrt gen Osten wird jetzt beenden können, ist unrealistisch. Aus Ankaras Sicht ist eine Abkehr von der Allianz mit Russland nicht wünschenswert und selbst wenn man sich dazu gezwungen sähe, würde dies nicht automatisch eine Wiederannäherung an „den Westen“ auslösen. Denn neben dem Syrienproblem einen beide auch handfeste wirtschaftspolitische Interessen und Moskau hat kein Interesse, den Stachel im Fleisch der NATO so schnell zu entfernen.
Gleichzeitig ist es für Europa eine erhebliche Herausforderung, einen angemessenen Umgang mit der Türkei zu finden. Eine türkische Politik, die die Konfrontation mit ihren nominell Verbündeten in Europa sucht, Menschen als Druckmittel nutzt und im Land demokratische Standards mit Füßen tritt, möchte man nicht begünstigen.
Andererseits ist mehr als unklar, ob die Frage nach der Moral in diesem Fall zweckführend ist. Europa sollte daher überprüfen, welche strategischen Interessen es in Syrien hat und inwieweit diese deckungsgleich mit den türkischen sind. Die Zeit, sich in diesem Krieg einen gut beleumundeten Partner zu suchen, sind schon seit Jahren vorbei. Die primäre Sorge ist daher aktuell auch nicht, ob in Idlib mit HTS eine radikale Gruppe dominiert – das tut sie ohne Frage - sondern was eine Fortsetzung des Krieges für die Zivilbevölkerung bedeutet.
Die Forderung nach einer Flugverbotszone, die auch militärisch geschützt wird, macht daher Sinn – man muss sich allerdings darauf einstellen, dass dies zu Komplikationen mit Russland führen kann und vermutlich nicht unter einem Mandat der Vereinten Nationen stattfinden wird. Ein geeintes Vorgehen der Europäer in dieser Frage mit Rückendeckung der USA macht es wahrscheinlicher, dass Moskau nicht die Konfrontation suchen wird. Dies kann aber nur funktionieren, wenn es eine Garantie gibt, dass eine solche Zone nicht zum neuen Rückzugssgebiet der Rebellengruppen wird. Der Einsatz von NATO -Luftabwehr und/oder NATO-Luftstreitkräften sollte dabei an die Bedingung geknüpft werden, dass Ankara auf die Aktivierung der russischen S-400 Systeme verzichtet.
Eine andere oder komplementäre Möglichkeit sind großzügige Aufnahmequoten aus willigen EU-Mitgliedsstaaten für Syrer/innen, die sich an die türkisch-syrische Grenze geflüchtet haben.
Im gleichen Atemzug sollte Brüssel der Türkei klar signalisieren, dass Europa die Unterstützung für Syrer/innen in der Türkei fortsetzen wird, wenn Ankara seine Politik ändert. Allerdings muss sich Europa nun auch endlich klar machen, dass Geld aktuell nicht das Hauptinteresse der Türkei ist - und Geld allein das Problem auch nicht lösen wird.