„Ich wünsche mir, dass uns die Zivilgesellschaft nicht als Integrationsprojekt versteht, sondern erkennt, dass wir selbst Teil dieser Gesellschaft sind“

Der autoritäre Sog beeinflusst auch die Arbeit marginalisierter Gruppen wie Migrant:innen. Welches Engagement setzen Migrant:innen dem entgegen? Im Interview von Johannes Richter mit Hamida Taamiri, Koordinatorin von KOMMIT in Bautzen, werden diese Fragen diskutiert

Buche mit kräftigen Wurzeln

Johannes Richter: Der Landkreis und die Stadt Bautzen machen bundesweit immer wieder Schlagzeilen mit neonazistischen sowie rechten oder verschwörungsideologischen Vorfällen, Übergriffen und einer scheinbar sehr rechten Stimmung in der Region. Neben einer starken rechten Szene fällt aber auch die Verwaltung oft mit einer sehr autoritären Politik gegenüber Geflüchteten und Migrant:innen auf. Der Sächsische Flüchtlingsrat berichtet immer wieder von einer autoritären Rechtsauslegung und kritisiert Maßnahmen der Behörden scharf. Wie nimmst du die Stimmung in der Region wahr und wie bewertest du das Vorgehen der Behörden?

Hamida Taamiri: Ich denke, die Stimmung in der Gesellschaft ist gespalten. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die sind hilfsbereit, freundlich und neugierig. Viele sind desinteressiert. Und es gibt Menschen, die beleidigen uns mit Blicken und Worten und diskriminieren uns rassistisch. Bei den Behörden gibt es natürlich Regeln und Verordnungen. Diese Bürokratie ist schwierig für uns. Wir wissen, dass es Regeln geben muss, aber der Ton macht die Musik. Daran halten sich leider nicht alle Mitarbeiter:innen in der Verwaltung.

Die Verwaltung ist ein Spiegel dieser Gesellschaft. Manchmal höflich und hilfsbereit, oft auch streng, ab und zu von oben herab, diskriminierend und beleidigend. Dann sind wir froh, dass wir Unterstützung vom Sächsischen Flüchtlingsrat und anderen haben. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass Behördenmitarbeiter:innen häufig ihre Menschlichkeit hinter Paragrafen verbergen.

In einem Vortrag über die Gründung einer Migrantenselbstorganisation (MSO) in Bautzen meintest du einmal sinngemäß, „Bautzen ist nicht braun, Bautzen ist bunt“. Tatsächlich gibt es in der Region Ostsachsen zahlreiche MSOs und deren erste landkreisweite Vernetzung in Sachsen. Bautzen scheint tatsächlich nicht nur eine starke rechte Szene zu haben, sondern auch viele organisierte Migrant:innen. Wie wichtig sind diese MSOs für dich in dieser politischen Stimmung?

Zuerst möchte ich auf das oben genannte Zitat eingehen (Bautzen ist nicht braun). In meiner Heimat habe ich gelernt: Wenn ein Baum nicht genug Wasser hat, gibt es für ihn Strategien, um zu überleben. Er bildet tiefere Wurzeln, um Wasser zu finden, dadurch wird er stärker und niemand kann ihn stürzen. Diese Metapher übertrage ich auf Bautzen. Ich sehe viele unterschiedliche Menschen, die sich unterstützen, ein buntes Netzwerk bilden und neue Wege finden, um sich den Nazis entgegenzustellen.

Die Gruppe der MSOs ist so bunt wie die Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist; nicht alle sind an politischen Themen interessiert, manche ungeübt oder ängstlich, aber in der Auseinandersetzung mit Alltagsthemen politisieren sich immer wieder Einzelne und das treibt mich an.

Warum sind für uns MSOs und der Austausch unter anderen Migrant:innen wichtig? Das neue Leben hier ist für Migrant:innen oft sehr schwierig. Es gibt starke rechte Strukturen, die uns nicht hier haben wollen und bedrohen und wir erleben täglich Ablehnung von Mitbürger:innen, die uns im Alltag Schwierigkeiten bereiten. Wir suchen nach Orten, Plattformen, um (auch über schlechte Erfahrungen) miteinander zu reden und auch um Lösungen zu entwickeln, weil wir hier für uns, unsere Familien, unsere Freund:innen ein friedvolles Leben haben möchten. Viele Migrant:innen leben in der Angst, dass die Gesellschaft sie nicht als Mitmenschen akzeptiert – dieses Gefühl bedeutet, dass sie keinen inneren Frieden, keine innere Stabilität zu finden. Natürlich sind wir in der Arbeit untereinander auch nicht immer einig, jeder, der sich engagiert, wird wissen, dass dies überall so läuft. Doch egal, wie uneins sich Migrant:innen vielleicht auch unterschiedlicher Herkunft manchmal sein mögen, wir wissen, wovon wir sprechen, wenn wir einander von unserem Alltag und den Abweisungen erzählen, die wir erleben.

Was haben diese MSOs und Migrant:innentreffen mit der Metapher des Baumes gemeinsam? Wir sind wie dieser Baum – es gibt nicht genug Wasser, deshalb versuchen wir gemeinsam mit anderen Menschen (die dieselben Schwierigkeiten erleben), uns zu vernetzen, um stärker zu werden. Menschen, die diese alltägliche Ablehnung nicht kennen, werden es vielleicht nicht gleich verstehen, aber: Es geht in der Metapher und auch in unserer Arbeit schlicht ums Überleben (survive). Der Baum sucht nach Wasser, weil er es muss. Es ist kein einfacher Prozess für den Baum, aber er muss es tun. Genauso müssen wir Wege finden, um psychisch und mental gesund zu bleiben. Wir erleben die Schwierigkeiten und wissen, was es bedeutet, sich immer wieder darum bemühen zu müssen, ein Recht zu haben, Teil dieser (lokalen) Gesellschaft zu sein – ein Recht, das viele Bürger und Bürgerinnen als selbstverständlich ansehen können.

Du erwähnst in Gesprächen immer wieder, wie wichtig dir Politik ist und dass sich MSOs als politische Akteure verstehen sollen. Was bedeutet für dich Politik und wo liegt das politische Handeln von Organisationen wie dem KOMMIT Bautzen1 oder dem Frauenverein Nissaa e. V.2 in deinen Augen?

Wie viele Menschen unterscheide auch ich zwischen Staatspolitik und der Graswurzelbewegung von unten. Realistisch gesehen berücksichtigt die Staatspolitik immer das Kräfteverhältnis in der Welt und dient den Interessen der politischen Eliten, was häufig den Interessen der normalen Bevölkerung widerspricht. Zum Beispiel hat eine bekannte deutsche Politikerin 2015 für eine Million Geflüchtete die Grenze geöffnet, aber später mit Erdoğan und an der EU-Außengrenze einen Deal vereinbart, um Geflüchtete festzusetzen. Damit hat sich Europa erpressbar gemacht. Nur wenn es ein starkes politisches Engagement von unten gibt, kann diesem Verhalten Einhalt geboten werden. Mein Ziel ist die Entwicklung solcher Bewegungen von unten – wie Nissaa e. V. und KOMMIT.

Welche Visionen und Utopien hast du für die Region Ostsachen? Was treibt dich in deinem Engagement an und woher nimmst du die Kraft, diese zahlreichen Projekte umzusetzen?

Meine Vision ist eine Gesellschaft, in der wir alle ohne Rassismus und Diskriminierung friedlich leben können. Je schlimmer die Ungleichheit und je häufiger ich Situationen erlebe, in denen sich ein Machtgefälle zeigt, desto mehr Kraft schöpfe ich. Es gibt aber auch Momente, in denen ich nicht weiß, wie ich weitermachen kann. Ich habe manchmal Angst um meine Kinder. Auch die Finanzierung von unseren Projekten ist immer unsicher. Das gehört auch mit zur Wahrheit – wir arbeiten in einem Arbeitsfeld, das politisch gern gesehen ist, aber oft prekäre Verhältnisse hat. Einerseits habe ich viele Ideen und lerne auch durch die angespannte Lage viel dazu, ich treffe tolle und clevere Menschen, mit denen ich Neues ausprobiere (und bin auch dankbar, dass dies meistens umgesetzt werden kann). Andererseits bin ich auch manchmal müde, die Arbeit als Koordinatorin ist herausfordernd und die ständige Frage, wie auch kleine Ideen finanziert werden können, zehren auch oft an meinen Nerven und rauben mir den Schlaf. Meine Utopie ist eine Welt ohne Rassismus, auch in Ostsachsen.

Immer wieder sprichst du davon, dass auch Migrant:innen selbstbewusst und bestimmt klare Forderungen und Ansagen gegenüber Stadtverwaltung und politischen Entscheidungsträger:innen formulieren sollten. Tatsächlich ist es dir in Kooperation mit anderen Aktiven gelungen, im Frühjahr 2020 ein großes Vernetzungstreffen im Stadtratssaal von Bautzen zu veranstalten, bei dem Vertreterinnen der Stadt Bautzen Grußworte gesprochen haben. Was bedeutet für dich selbstbewusstes und bestimmtes politisches Auftreten? Was zeichnet für dich eine klare Forderung aus?

Ich und andere aktive Migrant:innen möchten als ebenbürtige und gleichwertige Partner:innen im Dialog mit Vertreter:innen von Parteien, von Verwaltung, anderen Organisationen, schlicht der Mehrheitsgesellschaft, wahrgenommen und behandelt werden. Kurz gesagt setze ich mich für gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein.

Wir Migrant:innen wünschen uns Unabhängigkeit, um nicht nur benutzt zu werden. Viele sehen sich als Bürger:innen zweiter Klasse, weil sie trotz ihrer Stärken als solche behandelt werden. Die Migrant:innen selber sollten diese Situationen der Minderwertigkeit überwinden und selbstbewusster werden. Denn sie sind mit ihren Erfahrungen ein Teil dieser neuen Gesellschaft. Doch dazu braucht es mehr Möglichkeiten zur gleichberechtigten Teilhabe an vielen Bereichen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Migrant:innen dürfen und machen in meinen Augen nicht nur Integrationsarbeit, sondern bearbeiten Themen, die alle Menschen betreffen und die ganze Gesellschaft bewegen. Aus diesem Grund sollten sie in allen Bereichen als gleichberechtigte Partner:innen betrachtet werden und ihr Engagement sowie Politik nicht auf das Thema Integration beschränkt sein. Als Beispiel möchte ich eine Aktion am 17. September 2020 in Bautzen nennen. Die Aktion sollte an die Versprechen der UN erinnern, an die Agenda 2030 und die entsprechenden Nachhaltigkeitsziele. Sie warf die Frage auf: Ist es bisher gelungen, dass niemand auf dem Weg zu Bildung, Klimaschutz, finanzieller Sicherheit und Gerechtigkeit zurückgelassen wurde? Es gab insgesamt 17 Versprechen der UN und somit 17 Stationen, die symbolisch jeweils von einer Person vertreten wurden. Teilnehmende waren Privatpersonen, ehrenamtliche Vereine und Organisationen sowie öffentliche Institutionen. Unsere Aktion war keine Aktion von Migrant:innen, sondern eine Aktion der Gesellschaft, der Bürger:innen des Landkreises. Migrant:innen sind ein Teil dieser Gesellschaft.

Welche Rolle spielen in deinem politischen Aktivismus Verbündete und welche Wünsche und Erwartungen hast du an eine kritische Zivilgesellschaft? Wie können Aktivist:innen wie du vor Ort und aus der Ferne unterstützt werden?

Allianzen innerhalb einer kritischen Zivilgesellschaft sind eine Notwendigkeit, besonders seit der Erstarkung der Rechten. Nur wenn wir viele Akteur:innen sind, können wir unseren Anliegen Gehör verschaffen. Daher entstand auch die Idee, KOMMIT zu gründen, was uns helfen könnte, das schon erwähnte Machtgefälle zu verschieben, besonders in politischer Hinsicht.

Ich wünsche mir, dass uns die Zivilgesellschaft nicht als Integrationsprojekt versteht, sondern erkennt, dass wir selbst Teil dieser Gesellschaft sind. Integration ist kein Angebot oder eine Einladung. Sie ist ein Grundbedürfnis beider Gesellschaften. Wir alle sollten versuchen, der anderen Seite Türen zu öffnen und ein friedliches Zusammenleben möglich zu machen.

Keine Integrationspolitik, sondern Gesellschaftspolitik für alle – MSOs sind mehr als nur Integrationsprojekte. Dazu ist es auch notwendig, dass Teile der Zivilgesellschaft ihre Perspektive ändern und ihre politische Rolle besser verstehen und sich Fragen stellen zur Demokratie und wie es um sie bestellt ist. In unserer Arbeit hilft uns Solidarität, Medienaufmerksamkeit und nicht zuletzt natürlich finanzielle Unterstützung.

2019 fand eine Tagung zum Thema „Politisches Handeln im autoritären Sog“ statt. Eine Anschlusstagung sollte sich mit dem Thema „Ziviler Ungehorsam“ beschäftigen. Wenn du als politische Aktivistin diese Themen hörst, was sind deine ersten Assoziationen?

Ich komme aus einem Land, das nicht demokratisch regiert wird, deshalb bedeuten diese Themen viel für mich. Seit fünf Jahren lebe ich in einem demokratischen Land und nach wie vor stellen sich mir zu diesem Thema viele Fragen. Ich denke, dass Demokratie vom Ungehorsam lebt. Ich frage mich immer wieder, wie viel Ungehorsam die Demokratie braucht.

In demokratischen Ländern birgt der Ungehorsam viele Möglichkeiten für neue Ideen und politische Veränderungen. Bedauerlicherweise habe ich entdeckt, dass hier politische Initiativen und Zivilgesellschaft unter Druck stehen von den Forderungen und Parolen rechtspopulistischer und neofaschistischer Bewegungen zum Beispiel. Sogar das Retten von Menschenleben im Mittelmeer kann eine Form des Ungehorsams sein. Hier genau möchte ich ein paar Fragen an uns alle stellen:

1. Ist die Demokratie hier in Ordnung?

2. Was bedeutet Demokratie für die oder den Einzelne:n?

3. Gibt es Gründe von außen, die zu einer Zunahme von neonazistischen und rechten Tendenzen geführt haben?

Nach meinen Erfahrungen in dieser Gesellschaft möchte ich einige Ideen als ersten Eindruck äußern: Wir brauchen eine Analyse der Geschichte der Demokratie insbesondere unter der Frage: Welche Bedeutung hat der Ungehorsam in der Entstehung und in den Grundlagen der Demokratie?

Ich erinnere mich an ein Zitat von George Bernard Shaw, der sagte: „Demokratie ist ein Verfahren, dass garantiert, das wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“

Ich denke, dass wir politische Weiterbildung zum Thema Demokratie brauchen.

 


1 KOMMIT: Das Netzwerk Komitee wurde 2019 von und für MSOs gegründet. KOMMIT ist überparteilich und religionsübergreifend tätig und versteht sich als starke Stimme aller im Landkreis Bautzen lebender Migrant:innen. Beteiligt an dem Komitee ist eine Vielzahl von Vereinen, Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen. Diese Art von landkreisweiter Vernetzung, die von den MSOs selbst gestaltet wird und basisdemokratisch agiert, ist in Sachsen bisher einzigartig.

2 Nissaa e. V.: Der Frauenverein Nissaa in Bautzen wurde 2017 gegründet von Arabisch sprechenden Frauen. Zweck des Vereins ist die Förderung der Jugendhilfe, Förderung von Kunst und Kultur, Förderung der Erziehung, Volks- und Berufsbildung, Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens sowie die Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern.