«Zol zayn sholem af der gantser velt» Ein deutsch-polnischer, jiddischer Film von Uwe von Seltmann

Ein deutsch-polnischer, jiddischer Film von Uwe von Seltmann

Am Rand des galizischen Dorfes Rudno führt ein Weg in den Wald hinein. Ein paar Hühner gackern, ein paar Gänse schnattern, sonst ist es still. Die Autos auf der Umgehungsstraße um die 800.000-Einwohner-Stadt Lemberg (Lwiw), dem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Westukraine, sind nicht mehr zu hören. Vor dem Zweiten Weltkrieg diente der Kurort den Städtern als Sommerfrische - Polen wie Juden, Ukrainern wie Deutschen. Eine Idylle, damals wie heute.
Doch sie ist trügerisch. Nach einigen Hundert Metern wird ein Marmorblock sichtbar. Auf der Vorderseite hat jemand Löcher in den Stein gehämmert - genau dort, wo der Davidstern eingraviert ist. Boris Dorfman geht auf das Mahnmal zu, kehrt mit dem Griff seines Krückstocks Unrat beiseite, seufzt und sagt in seiner jiddischen Muttersprache: «Es iz geven a tragedye ...»
Was in dem Wald bei Rudno geschehen ist, steht in Stein gemeißelt: Am 18. Juni 1943 hatten hier die Nationalsozialisten 53 Juden ermordet. Das Mahnmal sei ein «memorium far di yidn, velkhe hobn gelebt 600 yor in galitsye», sagt Dorfman.
Der 91-Jährige ist schon länger nicht mehr dort gewesen, der Weg ist für ihn inzwischen zu beschwerlich. Dabei liegt ihm gerade dieser Gedenkstein am Herzen, denn Dorfman hatte dafür gesorgt, dass er 2008 errichtet werden konnte. Niemand kümmere sich um das Denkmal, seufzt er. Dann verneigt er sich, sagt Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen, und spricht zu den Toten: Er sei nicht alleine gekommen. Er werde von einem Filmteam begleitet, das die Geschichte der Lemberger Juden für die kommenden Generationen festhalte. Nun könnten die Toten in Frieden ruhen.
«Boris Dorfman – A mentsh» heißt der Dokumentarfilm, in dem die berührende Szene zu sehen ist. Er ist einer außergewöhnlichen Persönlichkeit gewidmet, die immer wieder mit dem höchsten Kompliment versehen wird, das die jiddische Sprache zu vergeben hat: Ein «mentsh» zu sein.
Der «mentsh» Boris Dorfman, 1923 in Moldawien geboren, wird in der jiddischen Wikipedia als «Jiddischer Publizist», «Jiddischkeit-Forscher» und «Kelal-Tuer» (deutsch etwa: Gemeinde-Aktivist) bezeichnet. Seit den 1990er Jahren ist er unaufhörlich im Einsatz, um Besuchern die jüdische Geschichte und Gegenwart von Lemberg nahezubringen. Erst mit der Unabhängigkeit der Ukraine war es möglich geworden, öffentlich an das Schicksal der Juden zu erinnern. Doch auch schon zuvor war Dorfman aktiv, etwa als Herausgeber einer jiddisch-sprachigen Untergrundzeitschrift - unterstützt von seiner Frau Betia, mit der er seit 62 Jahren verheiratet ist. Beide hatten die Shoah in Sibirien oder in Mittelasien überlebt, beide zahlreiche Familienmitglieder verloren und beide waren nach dem Krieg nach Lemberg gekommen – in eine Stadt, in der noch wenige Jahre zuvor über 100.000 Juden gelebt hatten und deren jahrhundertelange multi-kulturelle und multi-ethnische Geschichte ein Ende genommen hatte.
Heute leben etwa 1200 bis 1500 Juden in Lemberg, und keiner spricht mehr Jiddisch. Er sei so ziemlich der letzte, sagt Dorfman. Jiddisch sei «geven a internatsyonaler sprakh», betont er, Millionen Juden hätten sich vor dem Zweiten Weltkrieg mit dieser tausend Jahre alten Sprache verständigen können.  
«A mentsh» will das Erbe der jiddischen Kultur bewahren und ist daher in jiddischer Sprache (mit Untertiteln) gedreht – als weltweit erster Film seit 1948. Seine Premiere hatte «A mentsh», der bereits mit dem «Yiddish Oskar 2014» und dem Prädikat «wertvoll» ausgezeichnet wurde, im Mai 2014 zu den «Jiddischen Tagen» in Lemberg und auf dem Dokumentarfilm-Festival in Krakau. Die von Weiterdenken unterstützte deutsch-polnische Co-Produktion hat unterdessen zahlreiche Einladungen zu Festivals in den USA, in Kanada und Australien bekommen und mit «Logtv» einen renommierten Vertrieb für Nordamerika gefunden. In Deutschland wird «A mentsh» voraussichtlich ab November zu sehen sein.
«A Mentsh» hat eine ungeahnte Aktualität bekommen. Immer wieder singt und spricht Boris Dorfman von dem, was ihm am wichtigsten ist: vom friedlichen Miteinander der Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Nationalität – als ob er den Krieg in der Ukraine vorausgesehen hätte. Er verkündet seine Botschaft an all den Stätten des Grauens und den Orten der Hoffnung, an denen sich die wechselhafte Geschichte der Lemberger Juden widerspiegelt und an die ihn das Filmteam begleitet hat: In der Ruine der «Goldenen Rose», der einst bedeutendsten der 48 Lemberger Synagogen, am Mahnmal beim Ghetto, im ehemaligen Konzentrationslager Janowska, in dem 200.000 Juden ermordet wurden, an der Bahnstation Klepariv, von wo aus eine halbe Million Juden in die Vernichtungslager fuhren, zur Thoralesung, zum Tango und auch in seinem Keller-Archiv, einer Fundgrube mit Büchern und Zeitschriften in jiddischer Sprache. «Zol zayn sholem af der gantser velt», sagt er, möge auf der ganzen Erde Friede sein.