ER, SIE, I.T. – Wer sind wir ohne Privatsphäre?

„Wir lesen um zu wissen, dass wir nicht allein sind“, schrieb der britische Autor William Nicholson. Lesen ist eine der privatesten und einsamsten Aktivitäten. Du liest für dich allein und bist dadurch mit der Welt verbunden. Nicholson bezog sich ohne Zweifel auf die ungewöhnliche Kraft der Bücher, besonders der Belletristik, uns weit über uns selbst hinaus zu führen, während sie gleichzeitig unsere innersten Gedanken und Gefühle zeigt. Ich vermute, er zog nicht in Betracht, dass irgendwann e-Books auftauchen würden, die klarstellen, dass wir auf eine ganz andere Weise nicht allein sind.

 „172 andere Personen haben das auch markiert”, teilte mir mein Kindle mit, als ich zum ersten Mal einen Satz darin elektronisch unterstrichen habe. Ich deaktivierte sofort das ‚Popular Highlights‘-Tool. Meine Lieblingszitate sind also nicht mehr enthalten in der öffentlichen Liste der „Passagen, die bedeutsam für die Mehrheit der Menschen“ sind, wie Amazon es formuliert, aber sie sind immer noch irgendwo in den Untiefen der Datenerfassungsserver dieses Unternehmens aufgezeichnet. Ebenso protokollieren sie, wann ich das Kindle an- und ausschalte, was ich lese und an welcher Stelle ich in einem Buch zu lesen aufhöre. Vor Snowdens Enthüllungen war ich mir dessen bewusst und fand es da schon nicht gut, ließ mich aber nicht besonders davon stören. Jetzt, wo ich das Ausmaß kenne, in dem unsere Daten gesammelt und gespeichert werden, halte ich mich in der Nutzung von e-Books zurück, sonst würde ich der Einmischung in die wertvolle Intimität des Lesevorgangs zustimmen.

Wenn du ein Buch bei Amazon kaufst, kannst du über Soziale Netzwerke allen erzählen, was du da erstanden hast. Wenn du Sätze unterstreichst, wirst du daran erinnert, dass du sie mit der ganzen Welt teilen kannst. Und wenn du ein Buch zumindest auf dem Kindle ausgelesen hast, wirst du aufgefordert, diesen Fakt über Twitter und Facebook zu verkünden. All das bedeutet, dass der Raum schrumpft, in dem du deinen eigenen stillen Gedanken nachgehen kannst. Erinnerst du dich an Rousseaus berühmte Worte? „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“ Wir liegen mit Sicherheit in Ketten, wenn wir nicht mal lesen können, ohne von Werbung adressiert oder zur Selbstvermarktung aufgefordert zu werden.

Für mich ist das Lesen ein wesentlicher Bestandteil des Schreibens. Ich könnte womöglich nicht schreiben, wenn ich nicht lesen würde. Das Lesen nährt meine Vorstellungskraft, mein Empfindungsvermögen, meine Sprache – all das geschieht auf geheimnisvolle und nicht nachverfolgbare Weise. Sicherlich habe ich Zitate in Notizbücher geschrieben, manchmal sogar ganze Passagen, die mir gefielen. Aber der Prozess der Inspiration und des Verstehens war ganz allein meiner. Jetzt können die Spuren meines elektronischen Lesens und Forschens in große Datenbanken abgesaugt werden. Ich bin daran mitschuldig, weil ich durch die Bequemlichkeit von Apps wie Evernote verführt wurde, mit der ich Notizen katalogisiere und viel leichter wiederfinde, als wenn diese über unterschiedliche Notizbücher aus Papier verteilt wären. Ich bin – wie viele Schriftsteller_innen – durch das Internet zum Kauf eines Programms namens Freedom verführt worden, welches meinen Internetzugang blocken kann, sodass ich mich lange genug auf das Schreiben konzentrieren kann!

Wir sind nicht länger nur SIE oder ER, wir sind auch I.T. (im Sinn des „ES“ und „Information Technology“) Unsere digitale Existenz verändert, wer wir sind und wie wir uns verhalten. Wir sind nicht länger nur sie oder er, wir sind auch it – im Sinne des Freudschen „Es“ und der „Informationstechnik“, beides hat einen Bezug zum Selbst, dem „i“ („Ich“) und bedeutet ausgeschrieben „Internet-Technologie“. Die Buchstaben i und t bezeichnen außerdem „it“ – das „es“ – das wir als nichtmenschliche Entität definieren, und zu der wir werden, wenn unsere Daten wahllos gesammelt, gespeichert und von Staaten sowie Unternehmen genutzt werden, als wären es keine personenbezogenen Daten sondern öffentliches Eigentum. Im „It“ findet sich auch Freuds „Es“ wieder. Laut Freud ist die Psyche dreiteilig und besteht aus Es, Ich und Über-Ich. Das Es sei der Teil ohne Urteilsvermögen und Moral, nur von dem Wunsch nach Lust getrieben. Unser virtuelles Selbst scheint fast gänzlich vom „Es-“ oder “it-Lustprinzip“ beherrscht zu sein.

Wir sind im Internet sehr aktiv und dennoch sehr passiv in Bezug auf die ethischen Implikationen unseres dortigen Handelns. Du würdest hoffentlich nichts in einem Laden in der realen Welt stehlen, bist aber möglicherweise ziemlich entspannt in Bezug auf den illegalen Download von Büchern, Filmen und Musik. Wenn sich eine unbekannte Person im Bus dein Handy schnappen, deine Kontaktliste durchscrollen und sich Namen und Nummern aufschreiben würde, würdest du diese Person sofort festhalten. Wenn herauskäme, dass ein Nachbar deine Post geöffnet hätte, würdest du die Polizei rufen. Du würdest es nicht tolerieren, wenn irgendjemand dein Haus betreten würde, um deine Familienfotos anzusehen. Wenn uns jedoch klar gemacht wird, dass mit unseren Daten im Internet Schlimmeres passiert, zucken wir mit den Achseln und spielen weiter mit unseren Apps, als gäbe es keine Alternativen. Mit so einer Doppelmoral zu leben, wirkt fast schizophren. Vielleicht weichen wir der Wahrheit aus, weil wir Angst haben, ihren Folgen ins Auge zu sehen. Auch wenn wir vermeiden hinzusehen, ist die Wahrheit trotzdem da und verschwindet nicht, nur weil wir sie ignorieren.

Datenerfassung

Wenn die massive Überwachung fortdauert, schwinden demokratische Rechte und bürgerliche Freiheiten. Sie können von Gesetzen garantiert und von Institutionen aufrecht erhalten werden, aber um wirklich etwas zu bedeuten, müssen sie zuerst uns innewohnen. „Über sich selbst, über ihren Körper und Geist ist jede einzelne eine souveräne Herrscherin“, führte John Stuart Mill elegant aus. Dennoch wird mit bedeutsamen aber kaum wahrnehmbaren Schritten in diese Selbstbestimmung eingegriffen. Ich sprach oben detailliert über das Eindringen in den Vorgang des Lesens. Wir können jedoch während vieler privater Aktivitäten verfolgt und überwacht werden: beim Shoppen, im Urlaub, beim Fahren, bei Verabredungen, sogar beim Schlafen. Apps wie Sleep Cycle beobachten unsere Schlafzyklen, nehmen alles auf, was wir sagen, und messen sogar unser Schnarchen. Nicht nur du bekommst einen Einblick in deine nächtlichen unbewussten Aktivitäten. Diese ganzen Daten werden in Marketingstrategien eingebaut, um dir Schlafhilfen oder andere Dinge zu verkaufen, die deine Schlafqualität und dein Leben enorm verbessern sollen. Wer weiß? Vielleicht können zukünftig Informationen über deine Schlaflosigkeit zu noch unheilvolleren Konsequenzen führen, indem sie deine Berufsaussichten oder deine Krankenversicherung berühren. Denn Daten verschwinden nicht: Das Internet und seine Server vergessen nichts. Wir nehmen diese Onlineangebote in zu einem großen Ausmaß  an und glauben weiterhin, unseren freien Willen zu behaupten. Aber das Labyrinth der Überwachung und des Profiling ist so groß, dass es man es nicht umgehen kann. Und wenn alles fortwährend daraufhin zugeschitten wird, uns in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen, wenden sich die meisten von uns gegen ihr Selbst. Wir werden nicht gleich zu Automaten, aber wir sind zwangsläufig, wenn auch nur unbewusst, vom Marketing beeinflusst, das durch konstante Überwachung auf uns abzielt und das sowohl Bestandteil als auch Inhalt unserer Aktivitäten am Computer geworden ist. Snowdens Enthüllungen unterstrichen das Ausmaß, in dem der Staat seine Bürger_innen ausspionieren kann, aber die Unternehmen praktizieren das schon seit langem. Die unheilige Allianz beider bedroht die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft.

Datenerfassung in Bezug auf meine kreative Arbeit beunruhigt mich nicht, weil ich Angst vor Plagiatsvorwürfen hätte oder meine Quellen und Einflüsse geheim halten wollte. Sie stört mich, weil sich die Wahrnehmung meiner geistigen und kreativen Tätigkeiten in mein Bewusstsein eingeschlichen hat. Es ist keine positive sondern eher eine etwas hemmende Art der Wachsamkeit, weil es zu einem bestimmten Anteil mein Denken beschäftigt und dauerhaft davon abhält, kreativ zu sein. Außerdem gehört die Angst zu diesem neuen Bewohner meines Geistes.

Nachdem der britische Premier David Cameron empfahl, gegen den Guardian wegen der Berichterstattung über Snowdens Enthüllungen [über das gezielte Cybermobbing „unliebsamer Menschen“ durch den britischen Geheimdienst – Anm. d. Übersetzerin] zu ermitteln, war ich entrüstet. Diese Entrüstung packte ich in einen offenen Brief an den Premierminister. Aber als dieser fertig war, hatte ich ein wenig Angst, ihn online zu stellen. In dem Brief nahm ich Anstoß an Camerons Bemerkung, dass die Berichterstattung des Guardian „eine Gefahr für die nationale Sicherheit“ sei.

„Im Gegenteil“, schrieb ich, „Ihre mangelnde Bereitschaft, sich an einer ehrlichen Debatte zur Massenüberwachung zu beteiligen, ist wesentlich gefährlicher für das Land als alles andere. Sicherheit bedeutet nicht nur, vor Terrorist_innen sicher zu sein. Sicherheit ist ganz grundlegend Freiheit von Angst – und nichts ist angsterzeugender als ein Staat, der seine Bürger_innen willkürlich ausspionieren kann.“

„Die Wahrheit ist“, fuhr ich fort, „dass Sie riskieren, dem Terrorismus Vorschub zu leisten, indem Sie die drängenden und essentiellen Bedenken darüber, wie der britische Geheimdienst agiert, nicht ansprechen. Massenüberwachung unterminiert die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft – das ist genau das, was Terrorist_innen vorhaben. Weiterhin fördern Sie Unstimmigkeiten und Unruhe, indem Sie die Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz und Internetregulierung ignorieren: Revolutionen sind durch Missachtung des öffentlichen Willens und des Gemeinwohls entstanden.“

Es ist sicherlich provokativ aber nicht so kontrovers – jedenfalls sollte es nicht in einem Land als kontrovers aufgefasst werden, wo Meinungsfreiheit wirklich existiert. Dennoch musste ich mich dazu zwingen, es zu veröffentlichen, während mir klar war, dass diese Handlung wichtiger für meine eigene Integrität war als für alles andere. Ich bin nicht die Einzige, die  diese Ambivalenz erfährt. Eine Umfrage der internationalen Schriftstellervereinigung pen in den usa fand kürzlich heraus, dass in Folge der Snowden‘schen Enthüllungen ein Sechstel der befragten Autor_innen vermied, über Themen zu schreiben, die eine Überwachung nach sich ziehen könnten, und dass ein weiteres Sechstel von ihnen dieses in Erwägung zog. Ein Schriftsteller räumte ein, „dass die Erwähnung des Falles „Snowden“ in einer E-Mail diese schon als überwachungswürdig markieren könnte.“ Und ein anderer sagte, „dass mich sogar die Teilnahme an dieser Umfrage ein wenig nervös macht.“

Zu wissen, dass wir überwacht werden, ändert, wie wir sind

Neulich wechselte ich von Google zur Suchmaschine Startpage und war ein wenig irritiert, weil sie nicht – wie Google – vorwegnahm, was ich suchen wollte, als ich die ersten Buchstaben eintippte. Ich musste ausführlich beschreiben, was ich wollte, bevor ich die Suche starten konnte. Wie ärgerlich, diese ganzen Tasten drücken zu müssen! Ich brauchte einige Anläufe, um mich daran zu gewöhnen und das Wissen wertzuschätzen, von dem Startpage nicht vorhersieht, dass ich es suchen könnte – weil nicht aufgezeichnet wird, was ich oder andere vorher gesucht haben. Viele Leute genießen wie ich diesen maßgeschneiderten Service, der von Webapplikationen angeboten wird, auch wenn wir den Fakt missachten, dass dieser nur durch Massenüberwachung unserer Aktivitäten durch die Unternehmen möglich wird, deren Angebote wir nutzen.

Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman rückt unsere Resignation angesichts einer derartigen Überwachung in ein beunruhigendes Licht, indem er andeutet, dass wir uns eigentlich danach sehnen. „Der Zustand, beobachtet und gesehen zu werden, wurde neu eingeordnet: von einer Bedrohung zu einer Verlockung.“ Er legt nahe, dass wir „vom Versprechen gesteigerter Sichtbarkeit, ... als dem Beweis sozialer Anerkennung“ verführt werden. Er geht sogar so weit, den berühmten Satz von Descartes „Cogito Ergo Sum“ so umzuformulieren: „Ich werde gesehen (beobachtet, wahrgenommen, erfasst), also bin ich.“

Wie ich oben sagte, ändert das Wissen darum, dass wir überwacht werden, wie wir sind. In einem gewissen Sinn sind wir mehr wir selbst und freier, wenn wir allein und unbeobachtbar sind. Die grenzenlose Größe des Internets suggeriert totale Freiheit, aber tatsächlich ist es ein allgemeines Gerangel, das eine leichtsinnige Kultur der Selbstdarstellung zu Lasten des Individuums unterstützt. „Wenn das Produkt umsonst ist, bist du das Produkt“, um mit den Worten von Nicolaus Fargo, dem Chef des belgischen Zentrums für Datenschutz, zu sprechen. Um wirklich frei zu sein, brauchen wir Grenzen, eine Intimsphäre und Geheimnisse. „Das, was niemand über dich weiß, ermöglicht dir, dich selbst zu kennen.“, sagt Don Dillo gerade heraus.

Das Bewusstsein des Überwachtwerdens ändert bereits die Arbeitsweise einiger Schriftstellerinnen. In dem Roman, den ich gerade schreibe, geht es auch um die fits (Forward Intelligence Teams) in Großbritannien. Das sind im Wesentlichen Polizeieinheiten, die bei Protesten eingesetzt werden, um Aktivist_innen zu überwachen. Sie machen Fotos und sammeln alle möglichen Informationen über sie – auch, wenn diese Leute keinen Eintrag im Strafregister haben und nichts falsch gemacht haben. Früher habe ich ohne Hintergedanken im Internet über die fits recherchiert. Jetzt mache ich das mit der Angst im Hinterkopf, dass ich durch die  Eingabe dieses Worts in die Suchmaschine zur Zielscheibe von Überwachung werde. Die Umfrage von pen in den usa zeigt, dass auch andere Schriftsteller_innen jetzt bei der Internetrecherche heikler Themen vorsichtig sind wie z. B. bei Drogenkriegen, Masseninhaftierungen, Kindesmissbrauch oder Pornografie. Wenn Selbstwahrnehmung zu Selbstzensur wird, läuft etwas völlig falsch.

Ein derartiges Misstrauen ist typisch für totalitäre Regimes. Es ist schockierend, so etwas in Demokratien vorzufinden, wo unsere Bürger_innenrechte angeblich intakt sind. In totalitären Staaten haben die Bürger_innen gewöhnlich drei Wahlmöglichkeiten: innere Emigration, Widerstand oder Exil. Die innere Emigration ist der Rückzug in das Selbst, ein Versuch zu leben, ohne den Status Quo herauszufordern, in der Hoffnung, unerkannt zu bleiben und in Ruhe gelassen zu werden. Widerstand fordert die herrschende Ordnung heraus, ist ein Risiko unter Einsatz des eigenen Lebens. Und Exil wäre natürlich Emigration an einen freieren Ort.

Heute ist Exil keine Option mehr. Die neue „interNETionale“ Ordnung bedeutet, dass wir überall verfolgt und beobachtet werden können. Wir können uns auch nicht mehr schützen, indem wir offline bleiben. Tatsächlich wäre ein Rückzug von der Technologie eher eine Art innere Emigration als Exil. Im Augenblick haben wir nur zwei Möglichkeiten: den Mund zu halten oder ihn aufzumachen. Wenn du dich nicht äußerst, bist du damit einverstanden, Ware zu werden, eine ausbeutbare Datenmine, die zu Profitzwecken von Staaten und Unternehmen ausgebaggert werden kann. Eigentlich gibt es nur eine Möglichkeit: Laut zu fordern, dass unsere demokratischen Rechte gleichermaßen im virtuellen wie im realen Raum gelten müssen. Und gleichzeitig Aktionen durchzuführen, wie klein sie auch immer sind – und wenn es nur der Wechsel der Suchmaschine ist – sie begrenzen das Eindringen in unsere Privatsphäre und in unsere Freiheiten.

Bryan Magee konstatiert (in seiner Karl-Popper-Biografie, 1973, auf S. 87), dass die meisten Leute nicht wirklich Freiheit wollen, weil Freiheit Verantwortlichkeit mit sich bringt, und die meisten Leute haben Angst vor Verantwortung. Die Verantwortung bei vollem Bewusstsein des Ausmaßes und der Konsequenzen von Massenüberwachung nicht zu übernehmen, bedeutet, auf Urheberrecht und Souveränität über die eigene Identität zu verzichten. Wenn du dazu bereit bist, stellt sich diese Frage nur noch lauter und schriller: Wer bist du – er, sie oder it?

Das vorliegende Essay war die Keynote zur Konferenz „Whatever happened of privacy?“, veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung am 7. Dezember 2013 in Berlin.
Übersetzung: Antje Meichsner.