Ungarn, das Land, das einst durch seine Reformen scherzhaft noch als die „lustigste Baracke im sozialistischen Lager“ bezeichnet wurde, jenes Ungarn, das vielen anderen Transformationsländern den friedlich ausgehandelten Übergang vormachte und die Liste der erfolgreich konsolidierten Demokratien in Osteuropa anführte, dieses Ungarn scheint sich in den letzten Jahren immer mehr von demokratischen Prinzipien zu entfernen und den Anschluss an Europa zu verlieren.
Im April 2010 verzeichnete die rechtskonservative FIDESZ-Partei einen Erdrutschsieg und sicherte sich eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Viktor Orbán, der in den Jahren 1998 bis 2002 bereits einmal Ministerpräsident von Ungarn war, kehrte mit der Wucht einer Abrissbirne an die Macht zurück. Sein Programm enthielt kaum konkrete Konzepte für die Lösung dringender wirtschaftlicher Probleme, dafür aber vielmehr das Ziel der Bildung eines neuen politischen Systems, einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Eine Revolution in den Wahlkabinen soll stattgefunden haben, heißt es in der Regierungskommunikation seitdem. Es ist aber wohl vielmehr eine Revolution gegen die Demokratie geworden.
Orbán hat in kurzer Zeit sowohl Nachbarländer, als auch die Organe der Europäischen Union gegen sich aufgebracht und auch in Ungarn selbst ist der nationalkonservative Politiker höchst umstritten. Die neue Verfassung, die alles andere als auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens zustande kam, stellt nach Ansicht vieler eine Gefahr für die Grundrechte dar, und ermöglicht es Orbán und seiner Partei, sich langfristig an der politischen Macht zu halten. Zu seinen umstrittensten Maßnahmen gehören u.a. die starke Zentralisierung und Auflösung autonomer Strukturen, die Einschränkung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts, die Zwangspensionierung mehrerer hundert Richter_innen sowie die völlige Unterwerfung der öffentlich-rechtlichen Medien und die Schaffung eines übermächtigen Medienrats. Hinzu kommt, dass die nationalistische und offen EU-feindliche politische Rhetorik und autokratische Wirtschaftspolitik die Gesellschaft immer weiter polarisiert. Dieses gesellschaftliche und politische Klima bestärkt auch rechtsradikale Strömungen. So stellt die Partei „Jobbik“ mit 43 Sitzen die drittstärkste Fraktion im Parlament und propagiert unverhohlen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Die Zwischenbilanz nach nur zwei Jahren Regierens ist ein von der EU ausgegrenztes und im Innern tief gespaltenes Land. Doch der Zuspruch für die Politik der FIDESZ in der Bevölkerung ist immer noch groß. Viel zu tief sitzt noch die Enttäuschung über die vergangenen Regierungen, zu groß ist die Demokratieverdrossenheit. In einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde bemerkte der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész kürzlich, Ungarn sei wieder in der gleichen Situation wie unter Kádár, Macht habe der, der verzaubert: „Orbán hat Ungarn behext wie der Rattenfänger von Hameln“.
Trotz des Rechtsrucks gibt es in Ungarn rege zivilgesellschaftliche Akteur_innen, die sich in Kunst und Kultur oder im politischen Umfeld für ein demokratisches, tolerantes, vielfältiges Ungarn einsetzen. Gerade mit Ihnen wollen wir in Austausch treten und dringend benötigte solidarische Unterstützung und Vernetzung initiieren.
Im Rahmen der fünftägigen Bildungsreise wollen wir spannende Einblicke in die junge ungarische Demokratie und ihre Besonderheiten gewinnen und die aktuellen Probleme im historischen Kontext betrachten. Wir werden uns mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Zivilgesellschaft treffen, ihnen zuhören und über Demokratie, Gesellschaft und politische Bildung diskutieren.
Natürlich lassen wir uns die Stadt Budapest auch von den unterschiedlichsten Seiten zeigen. Geplant ist darüber hinaus auch ein Ausflug nach Miskolc im Nordosten des Landes, wo wir uns mit Kommunalpolitiker_innen und Roma-Vertreter_innen über die Probleme jenseits der Großstadt unterhalten werden.
Unser Flyer findet sich hier (pdf/ 205 kb).
Stand 3. April 2013, Änderungen vorbehalten
Programm zum Download (pdf, 64 kB)
15. Juli, Montag
Am Sonntag, den 14. Juli kurz nach 21 Uhr rollen wir vom Dresdner Hauptbahnhof mit dem Nachtzug los in Richtung Budapest und kommen dort frisch und ausgeschlafen um 8:34 am Keleti pályaudvar (Ostbahnhof) an. Mit der Wochenkarte in der Tasche nehmen wir Kurs auf das Goethe Institut, wo uns ein Frühstück erwartet. Die entspannte Atmosphäre bietet Gelegenheit, uns einander vorzustellen und das Programm vorzustellen. Unser Gepäck wird im Goethe-Institut solange aufbewahrt, bis wir am Nachmittag unser Hotel unweit der Margareteninsel beziehen.
Nach dem Briefing lassen wir uns von Krisztian Ungváry, einem jungen, engagierten Historiker, abholen, der uns auf einen Stadtrundgang mitnimmt. Wir lassen uns Orte zeigen, an denen sich prominente historische Ereignisse abgespielt haben. Während wir durch die Stadt laufen erzählt er uns, warum diese Ereignisse noch immer eine große Rolle spielen, möchte man das heutige Ungarn verstehen. Zurück im Goethe Institut hören wir einen Vortrag zum politischen System Ungarns, von Prof. Dr. Ellen Bos, Professorin für Politikwissenschaft an der deutschsprachigen Andrássy Universität Budapest.
Wir schließen den Tag mit einem Besuch im „House of Terror“, wo wir uns – voraussichtlich mit der deutsch-ungarischen Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Magdalena Marsovszky ein Bild vom offiziellen Geschichtsverständnis des Landes machen können. Das Museum thematisiert die Terrorherrschaft der Pfeilkreuzler zwischen 1944 und 1945 einerseits, und die sozialistische Diktatur nach 1945 andererseits. Das ehemalige Foltergefängnis beider Regime dient heute gleichzeitig als Gedenkstätte. Magdalena Marsovszky hat 2013 gemeinsam mit anderen das Buch „Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn“ veröffentlicht.
Stephanskrone (Foto: IFFCOUNTRY)
16. Juli, Dienstag
Wir beginnen den Tag um 9 Uhr mit einer Führung durch das ungarische Parlament. Dort werden wir unter anderem die im Kuppelraum aufbewahrte Stephanskrone sehen sowie die umstrittenen Gemälde, die die Regierung eigens zur Einführung der neuen ungarischen Verfassung anfertigen ließ.
Danach besuchen wir die „Magyar Helsinki Bizottság“, die auch international gut vernetzte ungarische Sektion des Helsinki-Komitees. Mit ihnen werden wir in erster Linie über den Rechtsstaat im Lichte der neuen Verfassung sprechen. Im Anschluss haben die Teilnehmenden Zeit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden.
Wir treffen uns wieder um 14:30 Uhr, diesmal mit Vertreter_innen zweier oppositioneller Parteien. Die „PM – Párbeszéd Magyarországért“ (Dialog für Ungarn) ist eine der jüngsten ungarischen Parteien. Sie entstand Anfang 2013, als sich die erst im Jahr 2009 gegründete Öko-Partei „LMP – Lehet Más a Politika“ (Politik kann anders sein) wegen innerer Differenzen spaltete. Die kleine progressive Partei steht ein für Umweltschutz, Freiheit und Demokratie und zeigt verstärkt Kooperationsbereitschaft innerhalb der zerfallenen Opposition. Wir treffen uns ebenfalls mit der „DK – Demokratikus Koalició“ (Demokratische Koalition), der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, die 2011 wiederum aus der Spaltung der MSZP – Magyar Szocialista Párt (Sozialistische Partei Ungarns), ein Jahr nach den verlorenen Parlamentswahlen, hervorging.
17. Juli, Mittwoch
Am Mittwoch erwarten uns interessante Einblicke in die Medien- und Presselandschaft des Landes. Zunächst besuchen wir die Redaktion der „Népszabadság“ (Volksfreiheit) einer der größten ungarischen Tageszeitungen, die auch als eine letzte Bastion der anspruchsvollen Berichterstattung gesehen wird. Die politische Ausrichtung des Blatts gilt als linksliberal. Der Verlag kämpft seit Jahren mit finanziellen Problemen und einer sinkenden Auflagenentwicklung.
Danach gehen wir zum inzwischen Weltberühmtheit erlangten „Klubradió“. Der Sender war der Orban-Regierung von Anfang an ein Dorn im Auge, die über die neugeschaffene staatliche Medien- und Nachrichtenbehörde nach immer groteskeren Wegen suchte, um dem Betreiber die Sendefrequenz zu entziehen.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen mit der Korrespondentin der österreichischen Nachrichtenagentur APA, Harriett Ferenczi, machen wir uns auf den Weg zu „Mérték – Médiaelemző Műhely“ (Werkstatt für Medienanalyse), einem Verein, dem zahlreiche Expert-innen aus der Medienwelt angehören und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Folgen der neuen Mediengesetzgebung zu erfassen und zu analysieren.
Der Abend steht im Zeichen der Budapester Off-Kultur. Wir treffen Künstler_ine und Kurator_innen und diskutieren über die Kulturpolitik der Orban-Regierung.
18. Juli, Donnerstag
Mit dem für uns bereitgestellten Reisebus fahren wir nach Miskolc, Komitatssitz von Borsod-Abaúj-Zemplén. Gleich nach der Ankunft treffen wir uns mit Studierenden, die uns durch die Stadt führen und uns anschließend zur Universität begleiten. Es folgen Gespräche zur Hochschulpolitik mit Studierenden und Dozierenden
Nach dem gemeinsamen Mittagessen treffen wir uns mit Kommunalpolitiker-innen und Roma-Vertreter_innen, mit denen wir einerseits über die Situation der Kommunen angesichts stark zentralisierender Ambitionen der aktuellen Regierungskoalition und über den Umgang mit nationalistischen Fraktionen in einer Kommune diskutieren. Dabei wird es insbesondere um die „Zigeunerpolitik“ der ungarischen Regierung und die Situation der Roma-Minderheit gehen, deren Vertreter_in zur Runde dazustößt.
Auf dem Weg zurück nach Budapest fahren wir mit dem Bus durch den „Bükk Nationalpark“, wo wir einen Zwischenstopp in der beschaulichen kleinen Stadt Lillafüred zum Abendessen einlegen. Ganz in der Nähe werden wir dort den höchsten Wasserfall Ungarns besichtigen und uns von einem Fachmenschen einen kurzen Einblick in ungarische Naturschutz- und Umweltpolitik geben lassen.
19. Juli, Freitag
Am Vormittag besuchen wir das „BMC – Budapest Music Center“, ein junges Zentrum für klassische und Jazz Musik. Hier treffen wir uns mit Vertreter_innen aus Kultur und Kunst zum Dialog. Geladene Gäste sind unter anderem József Mélyi, Publizist, Dozent und ehemaliger Präsident vom Internationalen Verband der Kunstkritiker_innen (AICA), sowie Adam Fischer, international tätiger Dirigent und Gründer der Österreichisch-Ungarischen Haydn-Philharmonie.
Am Nachmittag können sich die Teilnehmenden zwischen mehreren Themen entscheiden, die wir in Anlehnung an die bei der Anmeldung angegebenen individuellen Interessen zu organisieren versuchen. Je nach Interesse der Angemeldeten treffen wir – auch in kleineren Gruppen parallel - Vertreter_innen von Religionsgemeinschaften, von feministischen Organisationen und Aktiven aus der Schulpolitik.
Vor der Abreise treffen wir uns erneut im Goethe-Institut für eine abschließende Auswertung. Unser Zug fährt um 20:05 vom Keleti pályaudvar in Richtung Dresden ab und kommt dort am Samstagmorgen voraussichtlich 06:49 an.
Bild: zerking (indafoto.hu)
Die Reise ist für alle politisch Interessierten offen. Besonders freuen wir uns über Anmeldungen von Multiplikator_innen, die ggf. planen, sich im deutsch-ungarischen Kontext zu engagieren.
Los geht es am Abend des 14. Juli 2013 (Sonntag) per Nachtzug von Dresden nach Budapest, am 20. Juli erreichen wir früh am Morgen wieder Dresden. In den fünf Tagen werden wir uns täglich mit verschiedenen Personen aus den oben beschriebenen Bereichen treffen, verschiedene Orte in Budapest besuchen und am Beispiel von Miskolc die Verhältnisse in einer mittelgroßen Stadt kennen lernen. Die Reise umfasst vier Übernachtungen in einem 3-Sterne-Hotel in der Budapester Innenstadt. Im Preis inbegriffen sind die Reisekosten für Hin- und Rückfahrt, Übernachtungskosten inkl. Frühstück, Ausflug mit Reisebus und Stadtrundgang, Gespräche, sowie alle Eintritte in Kultureinrichtungen.
Bild: Fedor (indafoto.hu)
Die Reise kostet im Doppelzimmer 595 € pro Person bzw. 345 € für Studierende, Arbeitssuchende, Menschen im Freiwilligendienst, Rentner_innen u.ä. Der Aufschlag für ein Einzelzimmer beträgt 60 €.
Bitte melden Sie sich mit unserem Formular bei uns an (per Post an Weiterdenken, Schützengasse 18, 01067 Dresden oder per Fax 0351 – 49 43 411).
Auf der Rückseite finden Sie die AGB für diese Reise. Sollten Sie Probleme mit dem Formular oder der Anmeldung haben, melden Sie sich bitte per Telefon (0351 - 49 43 311 oder eMail anmeldung@weiterdenken.de) bei uns.
Sie erhalten zunächst eine formlose Bestätigung des Eingangs. Sind bis zum 31. Mai 2013 mindestens 15 Anmeldungen eingegangen, findet die Reise statt und Sie erhalten eine förmliche Bestätigung, den Sicherungsschein und die Bitte um Überweisung des Reisepreises und alle weiteren Informationen zur Reise. Die maximale TN-Zahl ist 25.
Downloads:
Anmeldeformular (pdf-Datei, 86,0 kB)
Anmeldungen bis 31. Mai 2013
Kontakt und weitere Informationen:
Weiterdenken, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen
Schützengasse 18
01069 Dresden
tel: 0351 - 4943311
fax: 0351 - 4943411