Salon Surveillance - Vorsicht, Vorbeugen!

 

 

Am 23. September war Verena Schreiber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt (M.) zu Gast im "Salon Surveillance" in der Moritzbastei in Leipzig.

Unter dem Titel "Vorsicht, Vorbeugen! - Kinder im Fokus der Kriminalprävention" ging es um die Problematisierung einer besonders subtilen, meist gar nicht als solche erkannten und gesellschaftlich weitgehend begrüßten Form der Kontrolle, nämlich der Kriminalprävention. Verena Schreiber, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt, nahm die aktuelle Kriminalpolitik zum Ausgangspunkt für die Diskussion der Wirkungen von kriminalpräventiven Interventionen auf die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen sowie ihre gesellschaftliche Wahrnehmung.

Verena Schreibers These ist, dass sich Kriminalprävention am Kind in einem immer engmaschigeren Kreislauf vollzieht. Sie beginnt in den Familien, sucht die Kinder später in den Schulen auf und stellt ihnen außerdem noch im Stadtteil nach. In ihrem nun folgenden Einführungsvortrag stellte sie die Praktiken auf den drei Ebenen vor und illustrierte sie jeweils anhand eines Beispiels:  

Familien: Prävention nimmt als erstes die kleinteiligen Machtverhältnisse der Familie in Anspruch, womit sie dem Kind sehr nahe kommt. Familien gelten gegenwärtig als eine zentrale Ursache für kindliche Abweichung. Die Kontaktaufnahme zur Familie erfolgt also mit pathologisierendem Blick. Begründet wird dieser mit „häuslicher Gewalt“, aber eine solche Verschneidung mit strafrechtlichen Aspekten ist noch nicht mal nötig. In einer Studie zum Aufbau des Präventionsdiskurses konnte Schreiber zeigen, dass die Kriminalprävention bereits aus der Zusammensetzung der Familie, dem Beschäftigungsverhältnis der Eltern oder dem Migrationshintergrund einen Präventionsbedarf ableitet.
Hier setzt die Prävention als familiäre Therapie an indem sie versucht, die Selbstregulierungs-potenziale der Familien zu aktivieren. So gibt es Programme und  Kampagnen „zur Stärkung der Erziehungskompetenzen von Eltern“, die „Elternuniversität“, „Familienbildungsstätten“, den „Elternführerschein“. Das heißt, dass die Familie umringt von Erziehungsexperten in ihrer Beziehung zwischen Eltern und Kind neu bestimmt und als Investition betrachtet wird.
Eine solche Maßnahme zur „Re‑Familialisierung“ sind die „Stadtteilmütter“. Das Projekt gibt es derzeit in 15 deutschen Städten, wobei Berlin und hier insbesondere Neukölln eine Vorreiterrolle einnehmen. Stadtteilmütter sollen Türöffner zu problematisch geltenden Familien sein. Um Stadtteilmutter zu werden, müssen die Frauen einen Migrationshintergrund haben, aus dem Quartier kommen, selbst Mutter sein, Deutsch und ihre Herkunftssprache sprechen und lesen können. Dann folgt eine sechsmonatige Ausbildung, bei der Themen wie das das deutsche Schulsystem, gesunde Ernährung, körperliche und seelische Entwicklung bis hin zu Sexualentwicklung und gewaltfreier Erziehung behandelt werden. In Neukölln sind bereits 140 Stadtteilmütter aktiv, die andere Mütter in ihrem Quartier in familiären Aufgaben unterweisen.
Welche Bedeutung hat diese Maßnahme für die Kriminalprävention beim Kind? Projekte wie die „Stadtteil-Mütter“ versuchen, eine Macht in dem für die Kriminalprävention nicht unmittelbar zugänglichen inneren Bereich der Familie zu revitalisieren, welche die Kinder wieder stärker an die Normalisierungsinstanzen anbindet, die außerhalb der Familie liegen - etwa an das Bildungssystem oder die Medizin. Die Frauen werden darin geschult, das schulische Einwirken auf die Kinder zu unterstützen und die Kinder darauf vorzubereiten. Die Mütter werden also zu den Verbündeten der Prävention in den Familien.

Schulen: Die Kinder, die nicht über die Familien erreicht werden, erreicht die Prävention dann in den Schulen. Deutsche Schulen sind derzeit ein Hauptaustragungsort kriminalpräventiver Maßnahmen von öffentlichen und kommerziellen Anbietern. War Präventionsarbeit an Schulen früher vor allem Gesundheits- und Verkehrserziehung, hat die Gewalt- und Suchtprävention heute damit gleichgezogen. Die Referentin war vor zwei Jahren an einer deutschlandweiten Umfrage an Schulen beteiligt, bei der ein Ergebnis war, dass von den teilnehmenden Schulen die Hälfte Gewaltprävention in Form eigener Curricula durchführt - also nicht einfach bei Bedarf in den Unterricht integriert, sondern als Programm durchführt.
Die Prävention verbreitet sich gerade an Schulen so massiv, weil es sich dabei um institutionalisierte Kinderräume handelt, die eine enorme Ressource bilden, wenn es darum geht, möglichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen. Über keine andere Institution können so viele Kinder erfasst werden und in keiner anderen Institution findet sich auch schon so viel Personal, dass mit der Unterweisung von Kindern vertraut ist. Deshalb macht es aus Sicht der Prävention schlichtweg Sinn, sich um die Zusammenarbeit mit der Schule zu bemühen. Wenn Prävention in den Bildungseinrichtungen fest verankert ist, festigt sich erstens die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche gefährlich sind und zweitens, dass sie ohne präventive Interventionen noch gefährlicher werden.
Schaut man sich die Programme einmal näher an, wird deutlich, dass das Spektrum der abweichende Symptome, die an Kindern beobachtet werden, sehr breit bestimmt wird und daher auch allen möglichen und zum Teil kuriosen Problemlösungsvorschläge die Tür öffnet. Die drei am weitesten verbreiteten Programme sind das Programm „Faustlos“, dann „Lions Quest – Erwachsen werden“ und  „Be smart – don’t start“. Die konkreten Vorgehensweisen sind zum Teil unterschiedlich ausgestaltet, aber eine Charakteristik paust sich immer durch: das Selbstmanagement. Die Programme halten die Kinder und Jugendlichen dazu an, Selbstreflexion zu betreiben und Strategien an sich zu entwickeln, mit denen sie sich optimal an die gegebenen Lebensumstände anpassen sollen. Zum Beispiel will Lions Quest dabei helfen, dass Kinder „sich selbst kennen und mögen, sich in andere hinein fühlen, kritisch und kreativ denken, erfolgreich kommunizieren und Beziehungen führen, Entscheidungen durchdacht treffen, Probleme lösen können sowie Gefühle und Stress bewältigen“ (Hilfswerk der Deutschen Lions e.V. 2010). Im Programm Klasse2000 werden verhaltenstherapeutische Techniken eingesetzt, wie Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung (Verein Programm Klasse2000 e.V. 2010). Diese Programme lehren die Schüler_innen in einer Form der Handlungsfähigkeit an, die auf Empowerment basiert. Im Zentrum steht das Selbst, das darin fit gemacht werden soll, Gefühle und Stress eigenverantwortlich zu bewältigen und sich selbstbestimmt aus einer ungewollten Situation zu befreien. Diese Konzentration auf Selbstmanagementstrategien bei der schulischen Präventionsarbeit hat Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit Kindern. Probleme der Kinder werden durch den Fokus auf das Selbstmanagement nicht in ihren sozialen und institutionellen Kontexten untersucht, sondern erscheinen eher als persönliche Defizite der Selbstwertschätzung, Selbstdisziplin und Motivation.

Quartier: Das Quartier bildet die dritte Dimension des Zusammenrückens um das Kind – neben der Familie und den institutionalisierten Kinderräumen und weist noch mal eine ganz eigene Qualität auf. Das spezifisch Neue an der Kriminalprävention beim Kind ist, dass sie nicht isoliert erfolgt. Die Prävention versucht vielmehr, die unterschiedlichen Normalisierungsorte des Kindes aufeinander abzustimmen und die übrig bleibenden Zwischenräume zu verengen. Derzeit sind in Deutschland ca. 1000 so genannte Präventionsgremien aktiv, häufig auf Stadtteilebene auch im Rahmen des Quartiersmanagements. In den Präventionsgremien schließen sich die lokalen Instanzen wie kommunale Behörden, die Polizei, Schulen, Vereine, Kirche, Wirtschaft etc. zusammen und stimmen ihre Strategien aufeinander ab. So kann die Prävention auch die Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Normalisierungsinstanzen reduzieren, z.B. zwischen Jugendarbeit und Polizei. Diesen beiden Institutionen kommt bei der Kriminalprävention im Quartier eine besondere Bedeutung zu: Sie bilden um die Schule einen Ring von paraschulischen Institutionen mit dem Zweck, jede Form der kindlichen Abweichung frühzeitig zu erfassen und im Verbund zu therapieren.
Als Beispiel dafür, wie die kinderbezogenen Normalisierungsinstanzen aufeinander abgestimmt werden, dient das Projekt „PiT = Prävention im Team“. Grundlage ist die Arbeit im Team, das heißt die Zusammenarbeit von Schule mit ihren Partnern im außerschulischen Bereich wie Polizei und Jugendeinrichtungen. Ziel ist es, in abgestimmter Weise Kinder und Jugendliche innerhalb und außerhalb der Schule in der Übernahme von Werthaltungen anzulernen und sie zu einem an den persönlichen Möglichkeiten orientierten Umgang mit Konfliktsituationen zu befähigen (Deutsches Forum für Kriminalprävention 2010).  Also geht es einerseits um die Abstimmung der lokalen Institutionen. Andererseits hat die Kriminalprävention im Quartier den Zweck, das Kind auch jenseits der Normalisierungsinstanzen Familien und Schule in den Zwischenräumen und Übergangszonen zu erfassen. Übergangszonen zu erfassen bedeutet vor allem die „Straße“, den öffentlichen Raum unter Kontrolle zu bringen. Hier geht es darum, die Aufenthaltszeit von Kindern in den Übergangsräumen unter pädagogisch-kriminalpräventiven Gesichtspunkten umzubauen.
Für die effektive kriminalpräventive Pädagogisierung der Freizeitflächen hatte die Referentin noch ein Bespiel aus Frankfurt – in den Worten eines Kindes kommentiert, das ein Bewusstsein dafür gebildet hat, dass die Kriminalprävention in Form dieser fürsorgerischen Belagerung auch etwas Gutes ist. Das Projekt „Übungsleiter statt arbeitslos“, das im Rahmen des Programms „Aktive Nachbarschaft“ in Frankfurt durchgeführt wird, erklärt Dogukan in der Frankfurter Rundschau folgendermaßen: „Auf dem Atzelberg haben wir früher manchmal alleine gespielt, aber es gab oft Streit. Jetzt sind die Erwachsenen dabei und wir hören darauf, was sie sagen.“

Diskussion

Anhand des letzten Punktes entspann sich eine lebhafte Diskussion um die Frage, inwiefern eine Kritik solcher Programme zu rechtfertigen sei, wenn sie doch in der Praxis ihren Zweck erfüllen und Kindern Kompetenzen verleihen, die ihnen bei der konkreten Bewältigung der gesellschaftlich an sie herangetragenen Herausforderungen helfen. Andere Diskutant_innen merkten an, der sei Fokus vielmehr auf die Umstände zu lenken, durch die Präventionsmaßnahmen erst notwendig würden. So lehren die Programme zwar ein empathisches Miteinander, ohne aber zu hinterfragen, warum dies in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich ist und es nutzen kann, sich anders zu verhalten.
Anschließend daran ging es darum, welche politischen Konsequenzen aus der grundlegenden Kritik an den diskutierten Formen der Präventionsarbeit zu ziehen seien. (Wie) Können die durchaus vorhandenen progressiven Elemente des ambivalenten Ansatzes gestärkt werden? Sind emanzipative Präventionsprogramme denkbar und wenn ja, wie könnten sie aussehen?
Nach Einschätzung der Referentin seien solche Ansätze für die Praxis wichtig und wünschenswert,  aber gegenwärtig kaum vorstellbar, da hierfür noch Konzepte und Begriffe fehlen. Gerade daher ist es so wertvoll, dass im Rahmen der überwachungskritischen Reihe eine Diskussion über die proble-matischen Auswirkungen von Kriminalprävention angestoßen und diskutiert wurde.

Anika Duveneck

 

Vor der Veranstaltung gab Anika Duveneck, Organisatorin und Moderatorin des Abends dem Radio Corax ein Interview.

 
 
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