Der Nationale Wohlfahrtsindex als Beitrag zu einer neuen Wachstumsdiskussion

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Roland Zieschank arbeitet als Projektleiter an der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin; zu seinem Schwerpunkt gehört die Entwicklung nationaler Umweltindikatoren sowie Nachhaltigkeitsstrategien; zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Hans Diefenbacher entwarf er den Nationalen Wohlfahrtsindex für Deutschland.

Er war am 1. Juni 2010 bei Weiterdenken zu Gast bei der Veranstaltung
"Wohlfahrt für alle".

 
 

1. Anlass der Diskussion um das BIP
Traditionell gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Schlüsselindikator nicht nur für westliche Volkswirtschaften; an ihm orientieren sich weltweit Politik und Öffentlichkeit bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung eines Staates und des Erfolgs oder Misserfolgs der jeweiligen Wirtschaftspolitik. Wohl deshalb wurde dieser ökonomische Leit-Indikator auch in die bundesdeutsche Nachhaltigkeitsstrategie seit 2002 übernommen – und zwar nicht nur als eigenständige Zielgröße, sondern auch als Bezugsgröße in anderen Indikatoren der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie wie der Energie- und der Ressourcenproduktivität oder im Verkehrsbereich. Gerade an dieser Verortung im Indikatorensatz der Nachhaltigkeitsstrategie entfachte sich – nach ersten kritischen Einschätzungen bereits in den 1980er Jahren – eine neuerliche Diskussion um die Aussagefähigkeit des BIP. Nachhaltigkeitsstrategien thematisieren in der Regel soziale Gerechtigkeit, ökologische Tragfähigkeit und eine ökonomische Entwicklung, die auch in Zukunft Bestand haben soll. Eine umsatzorientierte Kenngröße, verbunden mit dem Ziel kontinuierlichen Wachstums, gerät hier erkennbar in ein Spannungsfeld.

Die starke politische Fixierung auf das BIP oder BNE2 und auf entsprechende Wachstumsraten stößt auf wissenschaftlicher Seite bereits seit geraumer Zeit auf Skepsis, die sich vor allem auf Kosten in Produktion und Konsum bezieht, die nicht zu einer Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen. Negative Begleiterscheinungen für die Umwelt-, Arbeits- und Lebensbedingungen in einer Gesellschaft, die im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums entstehen können, reichen von Schädigungen von Wasser, Boden und Luft über die irreversible Ausbeutung natürlicher Ressourcen bis zur sozialen Desintegration derjenigen, die dem Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind. Auf diese Effekte wird auch nur teilweise mit kompensatorischen Ausgaben – etwa zur Reparatur von Umweltschäden – reagiert, die oft nur dazu dienen, den vorherigen Stand der Wohlfahrt wiederherzustellen. Bei der Berechnung des BIP/BNE schlagen diese Ausgaben aber positiv zu Buche. Überdies zeigt sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend, dass diese Aufwendungen vermutlich nicht zum Ausbau einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung ausreichen.

Gleichzeitig bleibt eine Reihe von Wert schöpfenden Aktivitäten im BIP/BNE unberücksichtigt, die positiv zur gesellschaftlichen Wohlfahrt beitragen, so die Wertschöpfung durch Hausarbeit und durch ehrenamtliche Tätigkeiten. In der Wahrnehmung von Politik und Öffentlichkeit hat sich jedoch durch die längere Zeit weitgehend erfolgreiche Strategie, ökonomische und soziale Probleme über Wirtschaftswachstum zu lösen, der Zuwachs an Wohlfahrt über viele Jahre sehr stark mit quantitativem Wirtschaftswachstum verbunden. So wurde nur langsam und zunächst auch nur in der Wirtschaftstheorie stärker akzeptiert, dass es Wirtschaftswachstum ohne Wohlfahrtszuwächse geben kann – dann nämlich, wenn die negativen externen Effekte des Wachstums die Wohlfahrtsgewinne wieder aufzehren. Und auch das Gegenteil ist möglich: ein Zuwachs an Lebensqualität, der nicht mit Wirtschaftswachstum einhergeht. Die konzeptionelle Schlussfolgerung, den gesellschaftlichen Wohlfahrtsbegriff vom ökonomischen Wachstumsparadigma allein abzulösen, erscheint dennoch und nicht nur in Deutschland bislang kaum vorstellbar, wenn nicht sogar revolutionär. Denn damit wäre möglicherweise eine Abkehr, zumindest aber eine Ergänzung des in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit dominanten Leitindikators für das Wohlergehen einer Gesellschaft verbunden.
Gerade in den letzten Jahren hat sich indes eine lebhafte internationale Diskussion darüber entwickelt, wie gesellschaftlicher Fortschritt und Wohlfahrt inhaltlich und methodisch besser gemessen werden können; eine Diskussion, an der sich nicht nur die Wissenschaft sondern auch Institutionen wie die EU, die OECD und die Vereinten Nationen beteiligen. Eine Reihe von Berichtssystemen und Indices wurden veröffentlicht,
die in ihrer Gesamtheit viele Lücken der Wohlfahrtsmessung schließen, ohne dass sie immer explizit zu diesem Zweck konzipiert worden sind: Sozial- und Umweltberichterstattungssysteme, Umweltökonomische Gesamtrechnungen und Indikatoren zur Erfassung der Lebensqualität. Um dem BIP/BNE jedoch „auf Augenhöhe“ eine Alternative gegenüberstellen zu können, wird es erforderlich sein, nicht nur ergänzende
Berichterstattungs- und Indikatorensysteme zu konzipieren, sondern die verschiedenen Aspekte einer Wohlfahrtsrechnung in einem Index zusammenzufassen.

2. Der Nationale Wohlfahrtsindex – das Konstruktionsprinzip
Um die bisherigen Defizite der Sozialproduktberechnung thematisieren zu können, wird ein aus mehreren Teilindikatoren bestehender Index vorgeschlagen. Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) stellt eine monetäre Kenngröße dar, dass heißt, alle einbezogenen Variablen liegen in monetärer Form als jährlich Stromgröße
vor oder könnten theoretisch in dieser Form vorliegen. Insgesamt umfasst der NWI in seiner Grundvariante 21 Variablen, in modifizierten Formen 19 beziehungsweise 23 Variablen.

  • Der NWI geht er von der Basisgröße „Privater Verbrauch“ aus. Dieser Ausgangspunkt beruht auf der Annahme, dass der Private Verbrauch – der Konsum von Gütern und Dienstleistungen durch die Haushalte – einen positiven Nutzen stiftet und damit zur Wohlfahrt beiträgt.
  • Aufgrund der wohlfahrtstheoretischen Überlegung, dass ein zusätzliches Einkommen für einen armen Haushalt eine höhere zusätzliche Wohlfahrt stiftet als für einen reichen Haushalt, wird der Private Verbrauch mit der Einkommensverteilung gewichtet. Je ungleicher verteilt das Einkommen einer Gesellschaft ist, desto niedriger ist – unter sonst gleichen Bedingungen – der NWI.
  • Dann wird die nicht über den Markt bezahlte Wertschöpfung durch Hausarbeit und Ehrenamt einbezogen. Die Entscheidung, diese Formen der Wertschöpfung im BIP/BNE nicht zu berücksichtigen, war bereits zur Zeit der Konzeptbildung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kontrovers diskutiert worden.
  • Sechs Indikatoren bilden zusätzliche soziale Faktoren ab, wobei einerseits Wohlfahrt stiftende Ausgaben des Staates für Gesundheit und Bildung addiert, andererseits Kosten etwa von Kriminalität oder Verkehrsunfällen abgezogen werden.
  • Ökologische Faktoren werden durch die Variablen 11 bis 19 erfasst: Ausgaben zur Kompensation von Umweltschäden, Schadenskosten aufgrund unterschiedlicher Umweltbelastungen und Ersatzkosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen.
  • Schließlich enthält der NWI in seiner Grundform zwei ökonomische Indikatoren, die Nettowertänderungen des Anlagevermögens und die Veränderungen der Kapitalbilanz. Beide Variablen weisen starke Schwankungen auf und sind in ihrem Einfluss beträchtlich. In einer modifizierten Form des NWI werden diese nicht berücksichtigt, um eine konzentrierte Darstellung der wesentlichen ökologischen und sozialen Korrekturen sowie der nicht über den Markt bezahlten Wertschöpfung zu ermöglichen.
  • Eine zusätzlich ausgewiesene Variante des NWI, die aber noch nicht mit empirischen Daten unterlegt werden konnte, bezieht darüber hinaus als negative Position die Nettoneuverschuldung öffentlicher Haushalte ein und positiv die öffentlichen Ausgaben zur ökologischen Transformation.

Die Verlässlichkeit der Datengrundlage ist für die einzelnen Variablen noch sehr unterschiedlich.
Während einige Werte auf leicht verfügbaren Primärdaten aus offiziellen Statistiken beruhen, handelt es sich bei anderen um Schätzwerte, die bei einer Weiterentwicklung des NWI durch vertiefende Analysen geprüft werden müssen.
Auch die Frage der Monetarisierung kann mit den vorhandenen Daten und Methoden noch nicht immer völlig zufrieden stellend gelöst werden.
Der Nationale Wohlfahrtsindex soll als informatives Pendant das BIP/BNE nicht ablösen, sondern diesem ergänzend gegenüber gestellt werden.

 
 

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4. Schlussfolgerungen für die politische Debatte
Wenngleich die Frage nach der „realen“ Wohlfahrt eines Landes vermutlich niemals “objektiv“ beantwortet werden kann, machen die unterschiedlichen Entwicklungskurven von NWI und BIP/BNE sie doch evident.
Komplementäre Wohlfahrtsmessung in Form eines Index auf derselben Ebene wie das BIP/BNE rückt die Überlegung wieder in das Zentrum, ob letztlich nicht die Wohlfahrt eines Landes das zentrale Ziel darstellt und die Rolle des ökonomischen Wachstums – aufgrund seiner Ambivalenz vor allem unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten – zukünftig anders konfiguriert werden muss.
Diese Überlegung lässt sich weiter präzisieren:
Der NWI eröffnet die Chance, andere Quellen des Wohlstands und der Wohlfahrt zu erkennen und zu stärken: Hierzu gehört eine gerechtere Einkommensverteilung, die Wertschätzung sozialer Netzwerke und bürgerschaftlichen Engagements und die Minderung von Umweltbelastungen und Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen. Diese anderen Quellen der Wohlfahrt bilden nicht zuletzt einen wichtigen „Puffer“ in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs. Denn der NWI dürfte die drastischen Rückgänge des BIP/BNE in den letzten Berichtsperioden - so unsere These - nicht im selben Umfang aufweisen (die entsprechenden Rechenergebnissen werden hier jedoch erst in ein bis zwei Jahren vorliegen). Die Abhängigkeit einer Gesellschaft von hohen ökonomischen Wachstumsraten als zentraler Orientierungsgröße nimmt damit implizit ab. Damit lässt sich aber außerdem der Tatsache Rechnung tragen, dass aufgrund des mittlerweile erreichten quantitativen Entwicklungsniveaus in den alten Volkswirtschaften die jährlichen Zuwachsraten auch unter „normalen“ wirtschaftlichen Verhältnissen tendenziell absinken und in Teilbereichen durchaus von gesättigten Märkten gesprochen werden kann (nimmt man den Absatz an Lebensmitteln, Textilien, Pkws etc.). Inzwischen gibt es einen weiteren Grund für nur noch schleichende Wachstumserwartungen: In mehreren westlichen Staaten sind die BIP-Kennzahlen künstlich über massive Verschuldungsstrategien, die entsprechende Aufblähung monetärer Assets – von Immobilien bis Finanzderivaten – und die Einkommensgenerierung über Finanzmärkte hoch gehalten worden. Eine Entschuldung trifft die privaten wie die öffentlichen Haushalte und vermindert wachstumsfördernde Nachfrage respektive Investitionen.
Umgekehrt: Wohlfahrt mit den im Projekt vorgestellten Teildimensionen kann durchaus weiter steigen, selbst wenn das traditionelle ökonomische Wachstum sich abschwächt oder stagniert. Mehr noch: Eine stetige Zunahme ist hier im Prinzip nicht prinzipiell problematisch - im Unterschied zu BIP/BNE-Steigerungen, die in der Regel zumindest ökologisch nicht nachhaltig sind.
Die stärkere Orientierung an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt ermöglicht – um einen Diskussionsvorstoß zum „Kern“ der traditionellen ökonomischen Argumentationsmuster zu unternehmen – eine stärkere Hinwendung zu qualitativem Wachstum: Während das BIP/BNE nachhaltigen oder nicht-nachhaltigen wirt9
schaftlichen Aktivitäten vollkommen neutral, um nicht zu sagen, gleichgültig gegenüber steht, findet im Kontext einer ausdifferenzierteren Wohlfahrtsberechnung eine Bewertung statt, welche denjenigen Staaten, die eine Nachhaltigkeitsstrategie ausgearbeitet haben und zielstrebig umsetzen, mittel- und langfristig Vorteile bringen können.
Das NWI-Konzept verkennt jedoch nicht die Automatismen der bestehenden Wachstumsimperative, die durch Zinszahlungen für Investitionen, Produktivitätssteigerungen der Industrie, internationalen Wettbewerb und Globalisierung sowie eine Sicherung der Sozialsysteme charakterisiert sind, wobei diese Wachstumsimperative Rezessionen auch nicht verhindern konnten. Es werden aber zusätzliche
Unterscheidungen vorgenommen: Differenziert wird in Wachstum finanzieller Kenngrößen und in Wachstum von physischen Kenngrößen, bezogen auf Stoff- und Energieströme sowie auf Eingriffe in Umwelt und Natur. Das Wachstum von privaten Einkommen und staatlichen Einnahmen eines Landes ist als solches kein Problem, finanzielle Zuwächse auf Konten belasten zunächst nicht die Ökosysteme.
Soziale oder politisch relevante Aspekte derartiger Steigerungen können beispielsweise über die Wohlfahrtsvariablen der Einkommensverteilung sowie über den Verschuldungsgrad mit thematisiert werden. Hingegen wird man nicht umhin kommen, die physischen Dimensionen des Wirtschaftswachstums aus klima- und umweltpolitischen, nachhaltigkeitsökonomischen und normativ-ethischen Gründen – intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, Unterschreitung des 2-Grad Levels bei der Erderwärmung, Bewahrung der Schöpfung – zu begrenzen.
Die Schlussfolgerungen aus einem alternativen, ergänzenden Index zum BIP/BNE gehen einerseits in Richtung einer Abkopplung des Wirtschaftswachstums vom Energie- und Ressourcenverbrauch, letztlich nicht nur in relativen, sondern auch in absoluten Größen. Zum anderen wird damit die ökologische Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft angesprochen. Stichworte sind hier „Grüne Innovationen bzw. Green New Deal“ und entsprechende Investments, eine Stärkung der so genannten „Ecoindustries“, Förderung von Ressourceneinsparungen und Effizienzsteigerungen sowie eine gewisse Abkehr von materiellen Produkten als häufig dominierender Grundlage für die Lebenszufriedenheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten.

Inwieweit ein stärker qualitatives Wachstum im skizzierten Sinne wirklich ausreichende ökologische Entlastungen, neue Arbeitsplätze, bessere Wettbewerbsfähigkeit und eine Entlastung der Staatsausgaben bringt, kann durch eine Wohlfahrtsrechnung wie dem NWI nicht beantwortet werden, zumindest aber angemessener thematisiert werden.
Das neue Berichtsystem enthält eine Reihe politischer Potenziale. So verbessert sich die informatorische Grundlage politischer Entscheidungsfindung, einerseits durch den Vergleich mit dem Verlauf des BIP/BNE – auch im Hinblick auf die Sichtbarkeit und öffentliche Kommunizierbarkeit alternativer Wohlfahrtsrechnungen ein Vorteil –, andererseits anhand der gesellschaftlichen Trends, über die die Teilvariablen des Index Aufschluss geben. Die Bereitstellung zuverlässiger und differenzierter Informationen über eine komplementäre Sicht der Wirtschaftsentwicklung stellt zudem eine wichtige Basis für die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an einer gesellschaftlichen Zieldiskussion dar: Was bedeutet gesellschaftlicher Fortschritt und wie ist er zu erreichen?