(Irr‑)Wege in die inklusive Arbeitsgesellschaft

Ein Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Alle inklusive? Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft“, am 15.05.2012 im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden

Vor dem Hintergrund der bestehenden Strukturen des Arbeitsmarkts und der ihn betreffenden Regelwerke entsteht ein gravierendes Missverhältnis zwischen der Nachfrage nach Arbeitskräften auf der einen Seite und dem, von tradierten Segmentationslinien und überkommenen Berufsbildern bestimmten Angebot an Arbeitskräften, auf der anderen Seite.

Demgegenüber stellen die hier vorgestellten Empfehlungen der Kommission Sozialpolitische Innovationen bei der Heinrich-Böll-Stiftung das sozialpolitische Ziel in den Mittelpunkt, allen erwerbsfähigen Menschen die arbeitsvermittelte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

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Inhalt:

I. Wirtschaft und Arbeitsmarkt der nahen Zukunft
1.1 Der Strukturwandel der Weltwirtschaft 2000-2040
1.2 Europas Wirtschaft im Strukturwandel
1.3 Nicht zu vergessen: Der demographische Wandel
1.4 Zwischenbilanz

II. Beschäftigung und Grundsicherung nach der Agenda 2010
2.1 Hartz IV im Vergleich
2.2 Das Leitbild der inklusiven Arbeitsgesellschaft
2.3 Die Grundsicherung – soziale Basis der Arbeitsmarktintegration
2.4 Das allgemeine Grundeinkommen – eine ungeeignete Alternative

III. Konkrete Schritte
3.1 Einheitliche Rahmenbedingungen für alle Beschäftigten

3.1.1 Befristete Beschäftigung
3.1.2 Zeitarbeit
3.1.3 Geringfügige Beschäftigung
3.1.4 Kombilohn
3.1.5 Mindestlohn
3.1.6 Selbständigkeit

3.2 Inklusionsleistungen im öffentlichen Beschäftigungssektor
3.3 Reformen im Bildungssystem

3.3.1 Generalisierung der Sekundarstufe
3.3.2 Aufwertung der beruflichen Bildung
3.3.3 Reform der Weiterbildung

IV. Schlussbemerkung:
Inklusion als sozialpolitische Staatsaufgabe

 

 

 

 

1.  Wirtschaft und Arbeitsmarkt der nahen Zukunft

Auf welche Welt beziehen sich unsere politischen, insbesondere unsere sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen? Eine den Realitäten entsprechende Antwort lautet: auf eine zunehmend interdependente Welt, deren Rahmenbedingungen beschleunigtem Wandel ausgesetzt sind ­­­– aufgrund der globalwirtschaftlichen Veränderungen, des technologischen Strukturwandels und des Wandels der globalen Arbeitsmärkte.

1.1  Der Strukturwandel der Weltwirtschaft 2000-2040 

Seit der Jahrtausendwende ist offenkundig: Die Weltwirtschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Wichtigstes, aber hierzulande oft ignoriertes Merkmal ist das historisch einzigartige Wachstumstempo. Noch nie in der Geschichte der Weltwirtschaft gab es so hohe Wachstumsraten wie seit dem Millennium. Zwischen 2003 und 2007 wuchs die Weltwirtschaft um jährlich 4,8 Prozent. Das neue Wirtschaftswunder findet vor allem in den Emerging Economies[1]statt, die zu dem Gesamtwert von 4,8 Prozent mit einem Wachstum von 7 Prozent p.a. beitrugen, wohingegen die alten Industrieländer nur auf 2,5 Prozent kamen.

Die Dynamik der neuen Industrieländer, allen voran China, hat dazu beigetragen, dass die Welt-Finanzkrise von 2008 relativ rasch überwunden wurde. (Die anhaltende Euro-Krise wurde zwar durch das Subprime-Debakel[2] in den USA ausgelöst, aber hat im Wesentlichen andere Ursachen.)

Mit dem Aufstieg der Entwicklungs‑, Schwellen- und neuen Industrieländer ist der globale Kapitalismus in eine beispiellose Boomphase eingetreten, wie es sie selbst in der Hochzeit der Industrialisierung zwischen 1870 und 1913 nicht gegeben hat. Damals wuchs die Weltwirtschaft im Durchschnitt nur um 1,3 % pro Jahr. Später, in der Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg, von 1950 bis 1973, betrug die Wachstumsrate immerhin 2,9 %. Doch das von den neuen Industrieländern getrage­ne Wirtschafts­wachstum hat eine neue, bislang unbekannte Dynamik, die Auswirkungen auf nahezu alle Länder der Erde zeitigt.

So ist es auch weder Zufall noch Versehen, sondern Ausdruck dieser Situation, wenn heute in den Nachrichten selbst geringfügige Änderungen von Chinas Wachstumsrate berichtet werden, so z.B. am 12. April 2012, als der Deutschlandfunk meldete, dass die Regierung der Volksrepublik China für 2012 nicht mehr mit 8,4 %, sondern „nur noch“ mit 8,2 % Wachstum rechnet.

Es ist eine unbestrittene, aber mancherorts noch ignorierte Tatsache: Die neuen Industrieländer befinden sich auf Überholkurs. Denn es betrifft nicht nur China, sondern eine ganze Reihe von einstigen Entwicklungsländern, die sich in die Wertschöpfungsketten der zunehmend integrierten Weltwirtschaft eingeordnet haben. Jüngstes Beispiel sind die Folgen der Überschwemmungskatastrophe in Thailand Ende 2011. Weil sich dort (und anderenorts kaum noch) die Fabrikationsstätten für Computer-Festplatten im 3,5-Zoll-Format befinden, besteht noch immer eklatanter Mangel an preiswerten Festplatten von 1 GB und mehr.

 Was sind die wichtigsten Faktoren dieser Entwicklung?

(1) Das Arbeitsangebot auf der Welt ist von 1,5 auf 3 Mrd. Menschen gestiegen. Es wird damit gerechnet, dass es sich bis 2050 erneut verdoppeln wird; ein Ende der Dynamik ist folglich nicht abzusehen.

(2) Durch die mit der Globalisierung einhergehende Transnationalisierung der Kapital- und Handelsströme wurden die Emerging Economies frühzeitig in den Weltmarkt integriert.

(3) Durch den Einsatz moderner IuK-Technologien konnten die einstigen Entwicklungsländer mehrere Entwicklungsstufen überspringen und Standortnachteile wettmachen.

(4) Mit der hohen Verbreitungsgeschwindigkeit der Nachrichtentechnologien und der Kostenvorteile des massenhaften Güterverkehrs wurden auch Waren handelbar, die zuvor als nicht transportier- und importierbar galten: technische und kaufmännische Dienstleistungen sowie immer mehr lohn- und materialintensive Waren.

Zusammen genommen verfügen die neuen Industrieländer schon heute über eine größere Wirtschaftskraft als die alten, wenn man ihre Leistung in kaufkraftgewichteten Wechselkursen (statt in den schwankenden Devisenkursen) misst. Dank ihrer höheren Wachstumsraten werden sie noch vor 2030 rund Zweidrittel des Bruttoinlandproduktes der Welt bestreiten.

Damit werden sich die weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse dramatisch verändern. Das wurde anhand eines Vergleichs von EU, USA und China für die Jahre 2000 und 2040 berechnet. In einer Studie des Wirtschaftshistorikers Robert W. Fogel von 2007 wird realistischerweise unterstellt, dass die EU weiterhin ein durchschnittliches jährliches (Pro Kopf-)Wachstum von 1,2 Prozent erzielt, die USA eine etwas höhere Rate von 2,8 Prozent erzielen und China im Durchschnitt mit jährlich 8 Prozent wächst (Indien: 6 Prozent). Vergleicht man auf dieser Basis die Situation in 2000 mit der (wahrscheinlichen) Situation im Jahre 2040, so kommt man zu folgendem Befund.

In 2000 erwirtschafteten die EU-15-Länder mit sechs Prozent der Weltbevölkerung immerhin 21 Prozent des Weltbruttosozialproduktes (WBSP). Die USA schafften mit fünf Prozent der Bevölkerung 22 Prozent des WBSP. Und China vermochte mit 22 Prozent der Bevölkerung lediglich elf Prozent des WBSP zu erzeugen.

Dieses Verteilungsverhältnis hat sich bis 2040 gründlich verändert. Dann werden die E-15-Länder von 2000 mit nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung rund fünf Prozent des WBSP erwirtschaften, während die USA mit fünf Prozent der Bevölkerung 14 Prozent des WBSP schaffen und China mit 17 Prozent der Weltbevölkerung 40 % des WBSP erzeugt.

Zwischenbemerkung: In universalgeschichtlicher Perspektive wirkt diese Entwicklungsphase der Menschheit etwas weniger aufregend. Denn sowohl China als auch Indien waren bis zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts schon einmal die größten Volkswirtschaften der Welt. Sie wurden erst im Zuge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts vom Westen überflügelt. Jetzt, rund 200 Jahre später, sieht es so aus, als würden sie lediglich ihren einstigen Status wiedererlangen – und damit gleichzeitig Vorreiter einer neuen Phase der Weltwirtschaft werden. Von einer nachholenden Entwicklung dauerhaft „unterentwickelter“ Länder kann also nur die Rede sein, wenn man sich auf eine relativ kurze Zeitspanne beschränkt.

Um sich ein etwas konkreteres Bild zu machen, lohnt ein Blick auf den Aufstieg Chinas: Chinas Aufholprozess begann Ende der siebziger Jahre. Seitdem hat sich Chinas Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Welt, gemessen in Dollar, verdoppelt, kaufkraftbereinigt sogar mehr als verfünffacht. Heute hat China nicht nur den Exportweltmeister Deutschland abgelöst, sondern in Punkto Stahl- und Energieverbrauch, Industrieproduktion, Mobiltelefone, Autoverkäufe  und inländische Patentanmeldungen die USA überflügelt (The Economist, 31.12.2011).

Noch vor kurzem musste man an dieser Stelle der Argumentation ausdrücklich erklären, dass Chinas Aufstieg nicht in erster Linie auf Niedriglöhnen und Exporterfolgen beruht. Heute genügen einige wenige Hinweise, z.B. dass China zum wichtigsten Importland für deutsche Autos geworden ist (VW verkauft mittlerweile mehr PKWs in China als in Deutschland); dass jährlich über vier Mio. Personen eine Universitätsausbildung abschließen und der Anteil chinesischer Hochschulen an den 500 Spitzenuniversitäten der Welt kontinu­ierlich von 1,8 Prozent in 2006 auf sechs Prozent in 2008 (Deutschland: 8 %) angestiegen ist; dass der Aufstieg des Landes nicht nur einer privilegierten Minderheit zu Gute kommt. Vielmehr sank die Zahl der Chinesen, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag leben, von 74 Prozent in 1981 auf 15 Prozent in 2004.

Es ist aber auch keine Frage, dass mit dem Aufstieg der neuen Industrieländer erhebliche Ressourcen- und Umweltprobleme verbunden sind. Schon 2007 verbrauchte China ca. 40 Prozent der weltweiten Eisenerzförderung und stand für 38 Prozent des Einsatzes von Kohle. Bis 2015 wird China die USA im Energieverbrauch überholt haben. 2030 wird ein Drittel des weltweiten Verbrauchs fossiler Energien allein auf Indien und China entfallen, was eine Vervielfachung der gegenwärtigen Kohle-Verfeuerung mit erheblichen Klimawirkungen bedeutet.

Bevor wir die Auswirkungen der neuen Dynamik auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt in der EU in den Blick nehmen, ist eine weitere Zwischenbemerkung angebracht. Vor nicht allzu langer Zeit war es üblich anzunehmen, dass Entwicklungsländer nach einem erhofften „take-off“ einen ähnlichen Entwicklungspfad einschlagen würden, wie ihn die alten Industrieländer im 19. und 20. Jahrhundert gegangen sind. Doch das war ein Irrtum. Dank ihres hohen Entwicklungstempos werden die neuen Industrieländer nicht die gleiche Entwicklungssequenz durchlaufen wie Europa oder die USA und folglich auch nicht deren frühindustrielle Sozialgeschichte wiederholen müssen, die von extrem langen Leidensphasen der Arbeiterschaft und heftigen Klassenkonflikten geprägt war. Denn während es in Europa und den USA des 19. Jhdt. ziemlich exakt 50 Jahre brauchte, bis sich das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt hatte, schaffte China den gleichen Fortschritt innerhalb von nur neun Jahren. Folglich konnte ein großer Teil der Bevölkerung Chinas in relativ kurzer Zeit beträchtliche Wohlstandsgewinne erleben.

Das bedeutet: Die heimliche Hoffnung trügt, dass es in den neuen Industrieländern zu einer raschen Dämpfung des Wachstumstempos kommen würde, weil sich die Arbeitnehmer/innen gegen untragbares Arbeitsleid und Hungerlöhne zu wehren versuchen. Womöglich ist in Asien mit einer ähnlich hohen Organisations- und Konfliktbereitschaft der Arbeiter/innen, wie sie es einst im alten Westen gab, gar nicht zu rechnen. Wohl aber mit direkten und indirekten Auswirkungen der fernen Wachstums- und Modernisierungsdynamik auf die Situation Europas.

1.2  Europas Wirtschaft im Strukturwandel

Bevor wir die Auswirkungen der Wachstumsdynamik in den neuen Industrieländern auf Europa abschätzen, sollte man sich erinnern, dass auch hierzulande ein stetiger Strukturwandel der Wirtschaft stattfindet. Nach dem Niedergang der Montan-Industrien (Kohle, Eisen und Stahl) erlebten wir das Ende der Textilindustrie und des traditionellen Druckereigewerbes. In den kommenden Jahren ist das Schrumpfen der Massen-Automobil-Herstellung wahrscheinlich.

In den letzten zwanzig Jahren hatten die Dienstleistungs-, v.a. die IuK-Sektoren die höchsten Produktivitätszuwächse, während die Produktivität im Produktionsbereich eher bescheiden blieb. In der Folge sank die Zahl der Industriebeschäftigten und der Dienstleistungssektor verzeichnete steigende Beschäfti­gungs­raten. Die europäische Wirtschaft befindet sich unaufhaltsam im Übergang zu einer wissensbasierten Dienstleistungswirtschaft.

Auf einem ähnlichen Pfad befinden sich auch die neuen Industrieländer. Sie haben einen wachsenden Exportanteil bei Waren auf mittlerem und höherem Technologieniveau. Damit geht allmählich der Platzvorteil der alten Industrieländer verloren. Gleichzeitig bewirkt der Strukturwandel in Richtung Dienstleistungen, dass ein gewisser Anteil der Arbeitsplätze auf dem mittleren Qualifikationsniveau, z.B. bei Computer- und Bürodienst­leistungen, auslagerbar wird. Beispielsweise wurde für die USA errechnet, dass von den ca. 130 Mio. Arbeitsplätzen knapp 30 Mio. „offshorable“ bzw. „highly offshorable“ sind und bei entsprechenden wirtschaftlichen Eckdaten ohne große Probleme ins Ausland verlagert werden können.

Im Zuge des Strukturwandels der Weltwirtschaft werden die westlichen Industriestaaten auf weitaus mehr Gebieten als in der Vergangenheit sowohl Exporteure als auch Importeure sein. Ihre „alten“ Alleinstellungsmerkmale in einzelnen Produktbereichen werden allmählich von globalen Wettbewerbsmärkten abgelöst werden. Für die EU in 2020 wird prognostiziert, dass es im Wesentlichen nur noch zwei Bereiche sein werden, in denen die Exporte den Wert der Importe übertreffen, nämlich in der chemischen und in der Transport-Industrie.

Von größerer Bedeutung für die Gesellschaften des „alten“ Europa sind allerdings die Folgen für die Arbeitsmarktentwicklung, die Beschäftigungspolitik und das Bildungssystem, die aus dem Strukturwandel resultieren. Sie betreffen die veränderte Arbeitsnachfrage und den Wandel der Qualifikationsanforderungen der Wirtschaft.

Aufgrund mehrerer Prognosen des künftigen Arbeitskraftbedarfs für die EU und Deutschland gelten folgende Veränderungen als „sicher“:

- Der Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften, der vom nationalen Bildungssystem schon heute kaum befriedigt wird, nimmt weiter zu.

- Der Anteil von Arbeitsplätzen für gering qualifizierte Arbeitnehmer/innen wird ungefähr gleich bleiben. Aber die Arbeitnehmer/innen sind zu größerer Mobilität und häufigerem Arbeitsplatzwechsel genötigt.

- Der Anteil der Arbeitsnachfrage, der sich auf Berufe im mittleren Qualifikationsspektrum richtet, wird spürbar abnehmen.

Die ungünstigsten Arbeitsmarktwirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung betreffen also keineswegs in erster Linie die niedrigsten Qualifikationsniveaus, sondern vor allem die Beschäftigungschancen im unteren Teil des mittleren Qualifikationsniveaus. Das ist jener Bereich, dem die Ambitionen der „Ungelernten“ und der staatlichen Berufsbildungspolitik gelten. Im Unterschied zur Situation in der EU zeigt sich für Deutschland mit seiner besonderen Industriestruktur auch eine rückläufige Nachfrage nach ungelernter Arbeit bzw. Personen ohne Berufsabschluss. Arbeitskräfte mit Berufsabschluss haben dagegen ähnliche Beschäftigungschancen wie bisher. Demgegenüber können die höheren Qualifikationsstufen von einer deutlich größeren Nachfrage profitieren.

1.3  Nicht zu vergessen: Der demographische Wandel

Die geschilderten Veränderungen finden vor dem Hintergrund des demografischen Wandels statt. Ohne näher auf die weithin bekannten Details dieser Entwicklung einzugehen, sei lediglich der Hinweis gegeben, dass die Zahl der Beschäftigten in Europa innerhalb des nächsten Jahrzehnts um ca. 60 Mio. abnehmen wird. Und zwar, weil es so viel weniger erwerbsfähige Personen geben wird.

In Deutschland wird der demografische Wandel bis 2050 zu einer Abnahme der Erwerbspersonenzahl um neun Mio. – auf dann ca. 36 Mio. – führen. Für Ostdeutschland wird sogar eine Halbierung der Beschäftigtenzahl erwartet. Verstärkte Immigration von jährlich 100.000 Arbeitskräften und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit („Rente mit 67“) können den Rückgang der Erwerbspersonenzahl allenfalls halbieren. Eine Ausweitung der Zuwanderung auf einen Nettoumfang von jährlich 200.000 Personen, wie von der Bundesbank empfohlen, ist aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich.

1.4  Zwischenbilanz

1. Mit dem Aufstieg der neuen Industrieländer erleben wir beschleunigtes Wachstum und den tiefgreifenden Wandel der Weltwirtschaft. Das schwächere Wachstum der europäischen Volkswirtschaften schützt diese nicht vor der Notwendigkeit, sich der neuen Innovations- und Marktdynamik anzupassen.

2. Mit dem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung sinkt die Zahl der Erwerbspersonen, während die Zahl der Rentner/innen und der Rentnerquotient (Rentner/innen – Beitragszahler/innen) steigen. Um den wirtschaftlichen Folgen der demografischen Entwicklung zu begegnen, müssen sich die Erwerbspersonen auf die Verlängerung der Lebensarbeitszeit einstellen. Für die Sicherung des notwendigen Qualifikationsangebots sind Bildungsreformen und eine nachfragegerechte Ausweitung der Immigration erforderlich.

3. Einen weiteren Veränderungsimpuls könnte die Wirtschaft durch den Umbau der Produktions- und Verbrauchsstrukturen erfahren, der zur Verringerung der CO2-Emissionen nötig ist. Davon werden Auswirkungen auf die Sektoralstruktur und eine Beschleunigung des intrasektoralen Wandels erwartet.

4. Wir haben also eine Situation vor uns, in der mehr und anders qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Wenn jedoch die veränderte Arbeitsnachfrage der Zukunft auf ein Arbeitsangebot mit ungefähr derselben Qualifikationsstruktur wie heute trifft, bleiben sehr viele Beschäftigungschancen ungenutzt und die Arbeitsplätze werden in andere Wirtschaftsräume abwandern. Das bedeutet weniger Wachstum, weniger Ressourcen zur Sicherung der Lebensqualität und weniger materiellen Wohlstand.

5. Weil auch bei schwachem Wachstum mit einem höheren Tempo des wirtschaftlichen Wandels zu rechnen ist, geraten die Institutionen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unter Anpassungsdruck. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bedürfen grundlegender Veränderungen, um alle Menschen zu befähigen, die künftigen Risiken und Zumutungen zu bewältigen. Gleichzeitig müssen die notwendigen Veränderungen dem geschrumpften fiskalischen Handlungsspielraum angepasst sin.

6. Weil die Arbeitnehmer/innen in Zukunft häufiger als bisher nach Maßgabe des Bedarfs an Spezial‑, Querschnitts- und Allgemeinqualifikationen rekrutiert werden, sind weitere Reformen im Bildungssystem nötig. Die Arbeitnehmer/innen werden sich kontinuierlich um Weiterbildung und Zusatzqualifikationen bemühen müssen.

2. Beschäftigung und Grundsicherung nach der Agenda 2010 2.1  Hartz IV im Vergleich

Vergleicht man die Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts im letzten Jahrzehnt mit den Regelungen, die beispielsweise in Dänemark und Großbritannien eingeführt wurden, so werden die deutschen Besonderheiten recht deutlich. Während man in Dänemark mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, Lohnersatzleistungen bis 90% und aktiver Wiedereingliederungspolitik auf universelle Arbeitsmarktteilhabe zielt, sorgt die britische Sozialpolitik mit Mindestlohnvorschriften und erwerbsorientierten Transferleistungen („tax credits“) für ein Minimum an Einkommenssicherheit und einen starken Selbsthilfeanreiz auf Seiten der Geringverdiener/innen.

Demge­gen­­über haben die Hartz-Gesetze der Regierung Schröder eine rigide Differenzierung der Lebens- und Erwerbschancen hervorgebracht. Hier wurden außer vielen Langzeit-Arbeitslosen auch große Teile der Sozialhilfebezieher/innen auf den Arbeitsmarkt geworfen, ohne dass sich dort die Nachfrage, d.h. die Beschäftigungschancen, erhöht hätten. Vielmehr kam es zur Ausweitung der atypischen Beschäftigungsformen und Umwandlung von Vollzeitarbeitsplätzen. Das Ziel der Integration in den ersten Arbeitsmarkt konnte nur für ein Drittel der einst 4,5 Mio. Arbeitslosen eingelöst werden. Die anderen rund 3 Mio. Arbeitslosen leben unter dem Homogenisierungsdruck der SGB-II- Instrumente. Diese kollidieren mit der großen Unterschiedlichkeit der individuellen Lebenslagen, Bedürfnisse und Chancen der Betroffenen, was regelmäßig zu Entmutigung und Dequalifizierung führt.

Mit dem Umbau des Arbeitsmarktes zu einer atypischen Beschäftigungslandschaft mit reduzierten Optionen und geringer Durchlässigkeit der einzelnen Segmente erfuhr die Arbeitsgesellschaft einen tiefgreifenden Gestaltwandel. Die diversen Varianten differenzierter und flexibler Beschäftigung, die einst als tolerierte Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis geduldet wurden, konnten sich zu einer Palette von unterschiedlich geregelten Beschäftigungsformen auswachsen. Gleichzeitig sieht sich eine beträchtliche Minderheit der betroffenen Arbeitnehmer/innen an den Rand der Gesellschaft geschoben.

In dieser Situation bieten sich der staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik scheinbar  drei Alternativen an.

> Alternative Nummer eins scheint die Wiederherstellung des Normalarbeitsverhältnisses als verbindlicher Standard zu sein – mit den Attributen Vollzeitarbeit, kontinuierliche Berufskarriere und Statussicherheit. Dabei wird allerdings übersehen, dass das Normalarbeitsverhältnis zu keiner Zeit für alle Erwerbstätigen Geltung besaß, sondern eng an den Sozialtypus des männlichen Alleinverdieners gebunden war. Aber schon das schiere Ausmaß der Pluralisierung von Lebensverhältnissen und Erwerbsformen schließt eine Rückkehr zu den Verhältnissen der 70er Jahre aus.

> Eine weitere Alternative bestünde in der Fortschreibung des Status quo, d.h. weiteres Wachstum des Niedriglohnsektors und damit einher gehender Armutsverbreitung bei gleichzeitiger Alimentierung der nicht­vermittelbaren Personen auf möglichst niedrigem Niveau. Damit würden die Segmentierung sozialer Chancen und die Desintegration der Gesellschaft weiter zunehmen.

> Als dritte Alternative kommt die Herstellung neuer Rahmenbedingungen für die Erwerbssphäre in Betracht, die sowohl dem Problem zunehmender Desintegration als auch dem Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft Rechnung tragen. Dominierendes Prinzip ist die Inklusion aller Erwerbsfähigen auf drei Ebenen der gesellschaftlichen Teilhabe:

  • auf ökonomischer Ebene – als realistische Chance der Erzielung eines existenzsichernden Einkommens,
  • auf individueller Ebene – in Gestalt der Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung und Qualifizierung, und schließlich
  • auf sozialer Ebene – als Einbettung in stabile Beziehungsnetze, die eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe sind.

2.2  Das Leitbild der inklusiven Arbeitsgesellschaft

Angestrebt wird eine Gesellschaft, die alle, die zur Erwerbsarbeit fähig sind, nicht nur der Pflicht zur Arbeit unterwirft, sondern ihnen auch die Möglichkeit der aktiven Partizipation in dieser gesellschaftlich zentralen Arena als Grundrecht einräumt. Dabei wird Arbeit nicht nur als notwendiges Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern gleichermaßen als Medium der individuellen Selbstverwirklichung und als Grundlage wechselseitiger gesellschaftlicher Anerkennung gesehen.

Arbeit ist konstitutiv für den Zusammenhalt der Gesellschaft, Leistung einer ihrer zentralen Maßstäbe für Gerechtigkeit. Wenn man diese Erkenntnis akzeptiert, resultieren daraus Anforderungen nicht nur allein an den marktförmigen Zugang zur Erwerbsarbeit, sondern umfassender an die gesellschaftliche Organisation der Beteiligung an und Anerkennung durch Arbeit. In diesem Sinne wird das Leitbild einer inklusiven Arbeitsgesellschaft vertreten.

Was daraus im Einzelnen an Reform-Empfehlungen folgt, wird sogleich skizziert. Zuvor ist es jedoch wichtig, den normativen Orientierungsrahmen an einem Punkt noch etwas deutlicher zu machen, nämlich bei den Themen „Grundsicherung“ und „Grundeinkommen“.

2.3  Die Grundsicherung – soziale Basis der Arbeitsmarktintegration

Dem Leitbild der inklusiven Arbeitsgesellschaft liegt die Auffassung zugrunde, dass alle Gesellschaftsmitglieder einen unbedingten Anspruch auf die Gewährleistung der zur Existenzsicherung notwendigen Mittel besitzen, sofern sie über keinen anderen zumutbaren Zugang zu ausreichenden Mitteln der Existenzsicherung verfügen. Die Höhe der Grundsicherung soll aus guten Gründen die Höhe eines niedrigen Lohneinkommens unterschreiten. Sie erlaubt allenfalls eine Lebensführung auf sehr bescheidenem Niveau. Die Mangelsituation soll Anreiz sein, sich mit Nachdruck um den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt zu bemühen.

Ob diese Funktion der Grundsicherung tatsächlich erfüllt wird, hängt allerdings nur teilweise von den Betroffenen selbst ab. Es zählt auch, wie sich die Nachfrage nach Arbeitskraft entwickelt, also die konkrete Wettbewerbs- und Konjunktursituation, tarifliche Lohnsätze, gesetzliche Mindestlöhne und Lohnnebenkosten, technologische und unternehmensorganisatorische Entwicklungen – also Faktoren für individuellen Erfolg und Misserfolg, die sich dem Einfluss der Arbeitsuchenden entziehen.

Deshalb darf sich die Gesellschaft, die mehrheitlich vom wirtschaftlichen Wandel profitiert, nicht auf bloße Alimentationsbeiträge beschränken und die Hilfebeziehenden ihrem Schicksal überlassen.

2.4  Das allgemeine Grundeinkommen – eine ungeeignete Alternative

Die Idee des garantierten oder bedingungslosen Grundeinkommens wird in verschiedenen Varianten vertreten und aus unterschiedlichen politischen Richtungen unterstützt. Als Vorteile werden genannt: Armutsvermeidung und generell ein „Mehr“ an Verteilungsgerechtigkeit, größere Wahlfreiheit bei der Arbeitsplatzsuche, ein Anreiz zum freiwilligen Rückzug vom Arbeitsmarkt, die Unterstützung nicht-marktförmiger Sorgearbeit, die Entbürokratisierung des Sozialstaats und vor allem ein Gewinn an Gerechtigkeit.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Aus den vorliegenden Untersuchungen zum garantierten Grundeinkommen geht hervor, dass es in Zeiten der Arbeitslosigkeit häufig als Niedriglohnsubvention und Kombilohnmodell wirkt. Es kann keineswegs pauschal als Instrument der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit veranschlagt werden. Vielmehr droht das Grundeinkommen die weitere Expansion des Niedriglohnsektors zu fördern. Eine Steigerung der individuellen Wahlfreiheit durch das Grundeinkommen setzt dagegen voraus, das seine Bezieher/innen keine soziale Diskriminierung erleiden, was jedoch sehr unwahrscheinlich ist.

Im Übrigen kann das bloße Vorhandensein eines Grundeinkommens nicht zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement oder zur Stärkung demokratischer Beteiligung beitragen. Zutreffend scheint aber die Erwartung, dass das Grundeinkommen – als gebündelte und bedingungslose Transferleistung – zum Bürokratieabbau und zur Verschlankung des Sozialstaates beitragen kann. Das dürfte erfahrungsgemäß jedoch nicht den Bezieher/innen zu Gute kommen.
 

Entscheidend ist die Frage der Gerechtigkeit. Das Grundeinkommen bietet keinen Gewinn an Verteilungsgerechtigkeit, weil es mit einem anderen Gerechtigkeitsprinzip, dem der Bedarfsgerechtigkeit, kollidiert: Es werden nur allgemeine Bedarfe (das soziokulturelle Existenzminimum) erfüllt, individuelle oder gruppenspezifische Bedarfe bleiben ausgespart. Besonders gravierend ist der Verstoß gegen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Denn zur Norm erhoben wird nicht nur eine Umverteilung zwischen erwerbstätigen und unfreiwillig nicht-erwerbstätigen Personen, sondern auch zu Gunsten von freiwillig Nicht-Erwerbstätigen. Werden aber Transfereinkommen auch jenen zugestanden, die zur Erzielung eines eigenen Einkommens in der Lage sind, werden grundlegende Vorstellungen von Fairness und Solidarität verletzt. Eine Existenzsicherung auch für „freiwillig Bedürftige“ hieße, dass selbst gewählte Bedürftigkeit gesellschaftlich belohnt und Nichtbedürftigkeit bestraft wird.

Das bedingungslose Grundeinkommen verletzt darüber hinaus den Gerechtigkeitsmaßstab der Teilhabegerechtigkeit, der sich auf die Inklusion aller in alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche bezieht. Das Grundeinkommen schafft allein Teilhabe am Konsum, nicht jedoch an der Produktionssphäre von Wirtschaft und Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der Beteiligung und Leistung positiven Wert haben, ist es ein Instrument der Exklusion. Der Politik würde das Grundeinkommen vielmehr erlauben, bestimmte gesellschaftliche Gruppen gezielt vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, ohne sich um die Folgen dieser Exklusion weiter kümmern zu müssen. So würde genau jene Gruppe von „Überflüssigen“ geschaffen, die man im Sinne der Armutsvermeidung nicht entstehen lassen wollte. Das ist kein Weg, um einer inklusiven Arbeitsgesellschaft näher zu kommen.

3.  Konkrete Schritte

Hier nun ein kurzer Abriss der Empfehlungen, welche die Kommission „Sozialpolitische Innovationen“ bei der Heinrich-Böll-Stiftung erarbeitet hat. Sie sind ausführlich begründet und dargestellt in der Broschüre „Wege zu einer inklusiven Arbeitsgesellschaft“, die im Herbst 2011 erschienen ist.

3.1  Einheitliche Rahmenbedingungen für alle Beschäftigten

Die Ausgangssituation: Eine Vielzahl von Sonderbeschäftigungsformen haben Teilarbeitsmärkte hervorgebracht, denen es an Übergängen in günstigere Beschäftigungsverhältnisse mangelt. Der einstige Normalfall, die unbefristete Vollzeitarbeit, ist auf dem Weg, zu einer Sonderform der Beschäftigung zu werden.

Als Antwort auf diese, vom Boom der atypischen Beschäftigungsformen geprägten Situation wird das Prinzip der Normalisierung empfohlen. Jedes Beschäftigungsverhältnis soll den prinzipiell gleichen, in der Regel entgeltproportionalenAbgabepflichten unterliegen. Seine Parameter, insbesondere das Stundenpensum und die Entgelthöhe, können von den Vertragsparteien – innerhalb des rechtlichen und tarifvertraglichen Rahmens, aber ohne Änderung des Beschäftigungsstatus – variiert werden.

3.1.1 Befristete Beschäftigung

Im Jahre 2010 handelte es sich bei 2,5 Millionen bzw. 8,9 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisseum befristete Arbeitsverträge. Etwa die Hälfte aller Neueinstellungen erfolgt befristet. Eine unfreiwillige Befristung lag 2007 in rund einem Viertel der Fälle vor.

Reformbedarf besteht gegenüber dem missbräuchlichen Einsatz der Befristung, insbesondere in Wiederholungsfällen. Deshalb soll es ein mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit wachsendes Maß an Beschäftigungssicherheit geben. Das erhält den Arbeitgeber/innen die notwendige Flexibilität, während Mitarbeiter/innen, die sich über mehrere befristete Verträge hinweg bewähren, in den Status der unbefristeten Beschäftigung mit entsprechendem Kündigungsschutz hineinwachsen können.

3.1.2 Zeitarbeit

2010 waren fast drei Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Zeitarbeit tätig. Dieser Bereich des Arbeitsmarktes ist so schnell gewachsen wie in fast keinem anderen Land. Die gewerbliche Zeitarbeit war hierzulande bis 1967 verboten und blieb auch nach ihrer Legalisierung für viele Jahre ein zu vernachlässigendes Phänomen. Das änderte sich erst in Folge einer Vielzahl gesetzlicher Änderungen, die beispielsweise dazu führten, dass die Überlassungshöchstdauer von ursprünglich drei Monaten auf 24 Monate ausgedehnt wurde.

Von einer generellen Abschaffung der Zeitarbeit wird ausdrücklich abgeraten, aber es gibt hinreichend Grund, ihre Verwendung auf die Funktion der Bewältigung von Kapazitätsengpässen zurückzuführen. Dafür ist die maximale Überlassungsdauer auf sechs Monate zu begrenzen. Gleichzeitig sollte zu Gunsten der Zeitarbeitnehmer/innen ihren besonderen Belastungen, insbesondere der sozialen Unsicherheit, durch Gewährung gleicher Bezahlung und gleicher Rechte wie bei den Stammbelegschaften Rechnung getragen werden, und zwar ab dem ersten Tag der Überlassung.

3.1.3 Geringfügige Beschäftigung

Im März 2009 gab es in der Bundesrepublik 4,9 Mio. ausschließlich geringfügig Beschäftigte mit maximal 400 Euro Monatslohn. Diese sog. Minijobs, die keinen existenzsichernden Lebensunterhalt ermöglichen, sind abgabenrechtlich privilegiert. Das hat als Anreiz zur Zerstückelung von Vollzeitarbeitsplätzen gewirkt.

Die Privilegierung der Mini-Jobs ist nachteilig sowohl für Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen als auch für die Sozialversicherungen. Deswegen wird empfohlen, die abgabenrechtliche Privilegierung der Minijobs aufzuheben bzw. durch eine sehr niedrig angesetzte Obergrenze der abgabenfreien Beschäftigung zu ersetzen. Die Abschaffung dieser Form atypischer Beschäftigung soll es den betroffenen Arbeitnehmer/innen sowohl ermöglichen, Arbeitsverträge im bisherigen Stundenumfang als auch solche über eine größere Zahl von Wochenstunden abzuschließen.

3.1.4 Kombilohn

Die Kombination eines niedrigen Vertragslohns mit staatlichen Zuschüssen bzw. Transfereinkommen krankt daran, entweder wirkungslos zu verpuffen oder hohe Mitnahmeeffekte zu generieren. Das gilt auch für die Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung nach ALG-II. Diese Beschäftigungsform geht in der Praxis häufig mit einer reduzierten Wochenstundenzahl zusammen und suggeriert Arbeitgebern und Arbeitnehmern, es handele sich bei bestimmten Arbeiten um die „typische“ Normalform von Beschäftigung.

Soweit Kombilohnmodelle noch praktiziert werden, sollte ihre Verlängerung oder Ablösung durch neue Modelle unterbleiben. Eine angemessene Entgelthöhe ist mittels einer allgemeinen Mindestlohnregelung zu sichern. An die Stelle der Hinzuverdienstregelungen im Rahmen des ALG-IIsollte die verpflichtende Wahrnehmung von Qualifizierungs- und Weiterbildungsangeboten treten: Bildungsinvestition statt Lohnsubvention.

3.1.5 Mindestlohn

Seit 2000 hat die Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland um 4,3 Prozentpunkte zugelegt und in 2009 einen Anteil von 21,5 Prozent erreicht. Während mittlerweile in mehreren TarifbereichenMindestlöhne Geltung erlangt haben, kommen in einer Vielzahl von tariflich ungeregelten bzw. mit unbezahlter Mehrarbeit belasteten Beschäftigungsverhältnissen immer noch sehr niedrige Lohnsätze zur Anwendung.

Die gesetzliche Festsetzung eines moderaten generellen Mindestlohns ist ein zweckmäßiger Weg, die Ziele des Arbeitnehmer/innenschutzes vor Ausbeutung und des Arbeitgeber/innenschutzes vor unfairem Lohnwettbewerb unter einen Hut zu bekommen. Hinzu kommt das Interesse des Staates, die Zahl der gegenwärtig 1,4 Millionen Menschen, die trotz Erwerbsarbeit kein existenzsicherndes Einkommen erhalten und deshalb als sogenannte Aufstocker staatliche Transferleistungen erhalten – aktuell zwischen 9 und 11 Mrd. Euro pro Jahr – zu reduzieren.

3.1.6 Selbständigkeit

Solo-Selbstständige neuen Typs laufen mangels ausreichender Vorsorge häufig das Risiko, im Alter auf die Leistungen der Grundsicherung angewiesen zu sein. Deshalb wird empfohlen, Mitgliedschaft und Beitragspflicht in der Gesetzlichen Rentenversicherung auch auf alle Selbständigen auszuweiten, aber die Beiträge für die ersten drei Jahre auf Antrag zu stunden.

Seit 2007 müssen auch Selbständige in eine Krankenversicherung einzahlen. Hier besteht Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Berücksichtigung des tatsächlichen Einkommens bei der Beitragsbemessung (anstelle der Orientierung an Einkommensteuerbescheiden für zurückliegende Jahre). Auch beim Leistungsbezug muss die Schlechter­stellung von Selbständigen gegenüber abhängig Erwerbstätigen ausgeschlossen sein.

Noch immer enthalten Handwerks- und Gewerbeordnungen gesetzliche Regelungen, die zum Schutz ständischer Interessen eingeführt wurden und die Chancengleichheit im nationalen und EU-weiten Wettbewerb behindern. Im Interesse der Selbständigen sollte deshalb der Abbau von Marktzutrittsschranken und wettbewerbshemmenden Vorschriften fortgesetzt werden. Es dürfen nur solche Regelungen Bestand haben, die der Kompetenz- und Qualitätssicherung dienen.

3.2  Inklusionsleistungen des öffentlichen Beschäftigungssektors

Realistischerweise ist auf absehbare Zeit mit einem Kreis von Personen zu rechnen, der dauerhaft vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleibt. Bei ihm stellt sich nicht in erster Linie die Frage, wie eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt erfolgen kann, sondern wie eine Teilhabe in und an der Gesellschaft zu ermöglichen ist. Dafür sind die beschäftigungspolitischen Instrumente ungeeignet.

Erforderlich sind vielmehr effektivere, gezieltere und u. U. dauerhafte Maßnahmen der Betreuung und Re-Integration, die gleichzeitig dem Wunsch der Betroffenen nach sinnvoller Betätigung und gesellschaftlicher Anerkennung entgegenkommen.

Empfohlen wird die Einrichtung (und Fortführung) von Arbeitsplätzen in bestehenden und über Förderprogramme neu zu gründenden öffentlichen Trägerinstitutionen.Im Interesse längerfristiger Planungs- und Leistungssicherheit sollte ein Förderungszeitraum von mindestens fünf Jahren (statt halbjährlich wiederkehrender Neuverhandlungen) zugestanden werden. Die Förderarbeitsplätze sollten über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren mit Personen besetzt werden, die einen besonderen Bedarf an Förderung und Unterstützung aufweisen: zum einen arbeitsfähige Personen, die aufgrund ihres Lebensalters und/oder ihrer Erwerbsbiografie als nicht (mehr) vermittelbar anzusehen sind; zum anderen Personen, die aufgrund von Qualifikations- und/oder Motivationsdefiziten der Einbettung in stabile organisatorische Zusammenhänge bedürfen, um ihre sozialen, kommunikativen und alltagspraktischen Kompetenzen zu stärken bzw. trotz anhaltender Kompetenzdefizite, soziale Anerkennung und Selbstachtung in gemeinnützigen Tätigkeiten zu erfahren.
Für diesen Personenkreis (im Umfang von drei bis vier Prozent eines jeden Jahrgangs) sind die im gemeinschaftlichen Arbeitszusammenhang vermittelten Beiträge zu Bildung, Weiterbildung, Sozialkompetenz und Persönlichkeitsentwicklung zunächst bedeutsamer als die Vermittlung fachspezifischer Fähigkeiten.

3.3  Bildungspolitische Innovationen

Hier geht es um eine Reform des Bildungssystems mit dem Ziel, kognitiv-analytische Kompetenzen zu einem gesellschaftlichen Allgemeingut zu machen und so die Menschen zu befähigen, in verschiedenartigen Zusammenhängen und auf unterschiedlichen Qualifikationsniveaus tätig zu sein. Deshalb lässt sich das Problem zukunftstauglicher Bildung und Qualifizierung aus keiner Reformdiskussion ausklammern. Bildung ist nicht nur Bedingung, um dem Wandel der Wirtschaft erfolgreich zu begegnen, sondern ein zentraler Modus der arbeitsgesell­schaftlichen Inklusion. Im Folgenden geht es allein darum, die Richtung notwendiger Bildungsreformen zu skizzieren.

3.3.1 Generalisierung der Sekundarstufe

Alle Menschen sollten schon im Kindes- und Jugendalter reflexive Lernkompetenzen („das Lernen gelernt haben“) erworben haben. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft fordert höhere kommunikative Kompetenzen und einen neuen Wissenstypus. Handwerkliches und im Arbeitsprozess erworbenes Erfahrungswissen, das die industriellen (Lehr-)Berufe kennzeichnet, tritt zurück zu Gunsten systematischen Wissens, das berufs- und situationsübergreifend ist und mit hoher Analysekompetenz verbunden ist.

Eine Bringschuld der Schule muss es sein, dass kein Jugendlicher die Schulzeit ohne Abschluss beendet, unabhängig davon, ob ihm dafür neun, zehn oder zwölf Jahre Lernzeit zur Verfügung gestellt werden.

3.3.2 Aufwertung der beruflichen Bildung

Es wird immer notwendiger, generell das Niveau der beruflichen Bildung anzuheben, zum Beispiel durch den verstärkten Erwerb systematischen Wissens in Berufsschulen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten.

Durch eine Modularisierung des Angebotes, die Flexibilisierung der Lernzeit und eine bessere personelle Ausstattung können eine bessere Eingangsförderung leistungsschwacher Jugendlicher und eine breitere Qualifizierung erreicht werden. Leitendes Prinzip muss sein, dass kein Qualifizierungsschritt ohne Abschluss, Anerkennung oder Anrechnung bleibt.

Zudem ist für noch mehr Durchlässigkeit von der beruflichen zur akademischen Bildung zu sorgen.

3.3.3 Reform der Weiterbildung

Die Devise des lebenslangen Lernens findet in der Realität nur schwachen Widerhall. Dies lässt sich zu einem Teil auf das enge und häufig zu geringe Wissensniveau zurückführen, das die duale Berufsausbildung vermittelt. Zum anderen verweist die geringe Weiterbildungsbereitschaft auf die ausgeprägte, aber viel zu eng konzipierte Beruflichkeit des Ausbildungssystems. Beschäftigte mit geringer Qualifikation und einer wenig lernförderlichen Arbeitsumgebung haben nur eine geringe Chance, die für lebenslanges Lernen notwendigen Kompetenzen zu entwickeln.

Um dem Bedarf an zukunftsfähigen Qualifikationen zu entsprechen, sollte das Modell des so genannten Meister-Bafögs zu einem generellen Instrument der Erwachsenenweiterbildung ausgebaut und mit günstigeren Rückzahlungskonditionen ausgestattet werden. Es sollte von Altersbegrenzungenbefreit und fachlich ausgeweitet werden, um die Förderung der individuellen Situation optimal anzupassen.

4.  Schlussbemerkung
Inklusion ist eine sozialpolitische Staatsaufgabe

 

 

Die Empfehlung einer umfassenden sozialstaatlichen Inklusionspolitik stößt auf den erwartbaren Einwand, sie würde den ohnehin überlasteten Sozialstaat noch mehr überfordern. Dem gegenüber wird festgestellt: Es gibt zwingenden Grund, dem Zustand des inneren Zusammenhangs der Gesellschaft Priorität einzuräumen. Die Gewährleistung eines hinreichenden Niveaus gesellschaftlicher Inklusion verdient Vorrang vor dem Ziel der Maximierung der volkswirtschaftlichen Leistung. Und es liegt in der Verantwortung des Staates, für eine entsprechende Anpassung der gesellschaftlichen Institutionen an den beschleunigten Prozess der ökonomischen Modernisierung zu sorgen.

 

 

Für Letzteres sind die Entwicklungen in der Familienpolitik ein gutes Beispiel. Hier hat der Staat auf die Enttraditionalisierung des Familienlebens wie auf die Differenzierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarkts reagiert – mit sowohl fördernden als auch kompensierenden Instrumenten: den Kindererziehungszeiten beim Rentenanspruch, mit Elternzeit und Elterngeld, mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz sowie dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder ab 2013. Nur auf der Grundlage solcher Eingriffe wurde die angestrebte Erhöhung der Frauenerwerbsquote realistisch.

Um nichts anderes geht es auch bei der Schaffung angemessener Rahmenbedingungen für die Inklusion aller Bürger/innen in die sich verändernde Arbeitsgesellschaft. Dabei sind die vorgeschlagenen Innovationen auch vor dem Hintergrund des Rückgangs der staatlichen Beschäftigung auf knapp elf Prozent der Erwerbstätigen zu betrachten. Diese Quote entspricht eher der von sozial schwach integrierten Schwellenländern wie der Türkei und Mexiko als jener von Ländern wie Schweden, Großbritannien, Australien und USA. Bis zur Etablierung marktüblicher Effizienzkalküle in allen Teilen des öffentlichen Dienstes bestand durchaus Raum für die Beschäftigung von Personen auf sehr unterschiedlichen Qualifikations- und Produktivitäts­niveaus, wodurch er – ohne besonderen Auftrag – eine wichtige sozialpolitische Funktion erfüllte.

Die Prioritätensetzung für eine inklusive Arbeitsgesellschaft bedingt es, die finanzielle Mehrbelastung dieser Aufgabe zu tragen. Die Herausforderungen der kommenden Jahre lassen sich nur bestehen, wenn zum einen die Bewahrung hoher wirtschaftlicher Leistungs- und Anpassungsfähigkeit und zum anderen die Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder gelingt – auch und gerade unter Bedingungen, die von erheblichen sozialen Externalitäten des Wirtschaftsprozesses geprägt sind.

 

[1] Schwellenländer

[2] Auch US-Immobilienkrise