Demokratie buchstabiert

Demokratie buchstabiert bedeutet für den Verbund der Heinrich-Böll-Stiftungen, das Jubiläum der Herbstereignisse 1989 zum Anlass zu nehmen, um den Zustand und Trends demokratischer Kulturen in den ostdeutschen - vor 20 Jahren aufständischen - Regionen Deutschlands zu begutachten und zu diskutieren.
Wir wollen debattieren, wo wir nach 20 Jahren stehen, welche Kultur demokratischen Lebens wir entwickelt haben, wie die Institutionen der Demokratie im Osten funktionieren. Inwieweit haben sich die 1989 formulierten Ziele der Opposition erfüllt? Wo gibt es Enttäuschungen oder Entzauberungen? Haben wir zu viel erwartet? Was ist heute zu tun?
Wir haben zu den 10 Buchstaben des Wortes «Demokratie» 10 Stichworte gefunden, an denen wir uns reiben wollen und zu denen wir uns Ihre Meinung wünschen.
Wir wollen auch untersuchen, in wie weit der Osten Deutschlands dabei Entwicklungen der alten Bundesrepublik unter schwierigen Bedingungen nachvollzieht oder wo er wie in einem Brennglas Entwicklungen verdeutlicht und vorweg nimmt. Alltagserfahrungen sind dabei genauso willkommen wie Hinweise auf wissenschaftliche Untersuchungen, provokante Zuspitzungen und satirische Übertreibungen.

Zu den einzelnen Buchstaben finden Sie hier Texte, die auf die zugehörige gemeinsame Debattenseite der Heinrich-Böll-Stiftungen verweisen (www.demokratie-buchstabiert.de ).

 
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Debatte

Der Osten hatte es im Umgang mit den kleinen und großen Vertretern des Staates besonders gut gelernt: Aufmerksam lesen und zuhören, interpretieren, Argumente hinterfragen und Wahrheit und Klarheit einfordern. Obwohl also gerade die Revolutionäre des Jahres 1989 die geschicktesten Debattierer und Debattiererinnen waren und sein mussten, ist der Osten dieses Kernelementes der Demokratie besonders müde. «Es wird zu viel diskutiert!», «Hört doch mal auf zu streiten!» ist häufige Klage. Ist das das Ende der Debattenkultur? Wo findet heute Austausch von Argumenten statt? Ist die Debatte durch den Talk zur Show verkommen? Kann der Streit zurück gewonnen werden?

 
 
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Engagement

Ein demokratisches Gemeinwesen lebt nicht vorrangig in den formalen Institutionen und in den formalisierten Abläufen. Es lebt durch seine Bürgerinnen und Bürger, die sich engagieren. Sie engagieren sich in den politischen Parteien und Gremien, aber Meinungen entstehen und verbreiten sich vor allem in der viel beschworenen Zivilgesellschaft. Im öffentlichen Diskurs wird die ostdeutsche Zivilgesellschaft meist als weniger entwickelt beschrieben. Stimmt das? Oder organisiert sie sich nur anders und entlang anderer Themen und Probleme?

Engagement
von Silke Gajek, Schwerin

Was wir aus der Geschichte lernen können
von Elisabeth Schroedter

 
 
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Meinungsfreiheit

Obwohl Ostdeutschland oft als skeptisch gegenüber der parlamentarischen Demokratie beschrieben wird, finden bestimmte Prinzipien der Demokratie im Osten sogar tendenziell höhere Zustimmung. Meinungsfreiheit ist ein solches, hoch angesehenes Gut. Der Wiedergewinn einer freien Sprache und die Wiederentdeckung für die Verantwortung für die eigene Meinung gehören zu den spannendsten, anstrengendsten und rasantesten Prozessen im Verlauf der Jahre 1989 und 1990 für die Ostdeutschen. Dazu gehört auch die Grundforderung von freiem Zugang zu Informationen, die sich 1989 in der Forderung nach Umweltdaten, Wahlergebnissen, Freigabe von Zeitschriften, Abschaffung von Zensur bis hin zur Offenlegung der Stasi-Akten Bahn brach.
20 Jahre sind wir immer noch vom Ideal des wissenden und verstehenden Demokraten weit entfernt. Gibt es zu wenige oder zu viele Informationen. Sind wir informiert oder unterhalten? Müssen wir zu Allem eine Meinung haben?
Meinungsfreiheit ist auch ein Gut, das auch neonazistische Organisationen für sich in Anspruch nehmen und sich gleichzeitig als Opfer intoleranter Verleumdung und einseitiger Medienmanipulation präsentieren. Die ostdeutsche Gesellschaft findet schwer einen Weg zwischen der Verteidigung von Freiheitsrechten und aktiver Auseinandersetzung mit Antidemokraten und der Grenzziehung zu verfassungsfeindlichen Äußerungen.
Andere sehen ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt, wenn sie als Arbeitnehmerinnen ihrem Arbeitgeber gegenüber zu Loyalitätsbekundungen gezwungen werden.
Was ist uns Meinungsfreiheit wert und wo hört sie auf? Wieviel Meinung schaffen wir?

 

Meinungsfreiheit, die persönliche, verbale
von Rudolf Keßner, Weimar

 
 
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Opposition

Vor 1989 war alles Opposition: Haarschnitt und Jeans, der andere Fernsehsender und das andere Magazin, Wehrdienst ohne Waffe und Jugend ohne Weihe, der Wunsch nach Informationen und der nach echter Wahl, Kirchenkreis und Kreistanz, Neugier und Witz. Alles richtet sich gegen den normierenden Staat, der ein Menschen- und Gesellschaftsbild wissenschaftlich erarbeitet hatte und planmäßig durchzusetzen versuchte. Die kleine und die große Opposition im Alltag und in den Demonstrationen des Herbstes 1989 brachten diesen Staat ohne Demokratie zu Fall.
Danach wird die Revolutionärin, wird der Revolutionär wieder: müde. Er hat ja die Diktatur gestürzt und seine Demokratie erreicht, muss da Opposition dann wirklich noch sein? Müssen wir nicht jetzt alle an einem Strang ziehen? Welche Wertschätzung erhält die Opposition in der jungen Demokratie? Wie nimmt sie selber ihre Rolle an? Wie macht sie sich selber wertvoll?

Opposition
von Peter Hettlich

 
 
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Koalition

Bündnisse auf Zeit sind in einer Demokratie unumgänglich. Minderheiten können so ihre Interessen geltend machen, Regierungen stabil arbeiten. Trotzdem scheint die Koalition im Kanon des demokratischen Handwerkszeugs schlechtes Ansehen zu genießen. Vielleicht gab es ja mit dem Ende der DDR nach den vielen verlogenen Kompromissen im Umgang mit der Staatsmacht des Alltags die Ho ffnung, nun weniger Kompromisse eingehen zu müssen. Der Ausgleich von Interessen in der pluralen Gesellschaft ist eine neu zu erschließende Aufgabe in der immer noch jungen ostdeutschen Demokratie. 
Koalitionen in ostdeutschen Parlamenten machen im Umgang der politischen Akteure miteinander nicht den Eindruck, dass die Akteure ihre Rollen in einem solchen temporären Zweckbündnis immer verstehen. Gleichzeitig müssen ostdeutsche Parlamente eine Vorreiterrolle dabei spielen, jenseits der tradierten Lager der alten Bundesrepublik, arbeitsfähige Regierungen zu bilden und dabei eine insbesondere einen sinnvollen Umgang mit der Partei „Die Linke“ zu finden. 
Wo Grundprinzipien von Demokratie wenig verinnerlicht und eingeübt sind, fällt es auf der anderen Seite umso schwerer, eine klare und begründete Abgrenzung der Demokraten von den Nazis zu schaffen und durchzuhalten. Dass bei Feinden der Demokratie Koalitionen - auch nur bei einzelnen Abstimmungen - fehl am Platz sind, ist nicht immer klar.

Koalitionen – zwischen Kooperation, Konkurrenz und Konflikt
von Dr. Gudrun Heinrich, Rostock

Kompromisse sind eben nicht a priori verlogen
von Matias Mieth, Jena

 
 
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Rechtsstaat

Vor 20 Jahren war der Rechtsstaat im Osten ein weitgehend unbekanntes Wesen und doch erwünscht und erhofft. Die kaum überprüfbare Allmacht von Partei- und Staatsführung hatte die Bürgerinnen und Bürger zu machtlosen Untertanen degradiert. Rechtsstaatlichkeit schafft Institutionen und Verfahren, die Macht an Recht binden und Macht überprüfbar machen.
Trotzdem scheint der Rechtsstaat für Ostdeutsche oft eine Enttäuschung zu sein: Es kommt auch nicht immer die Gerechtigkeit heraus, wie ich sie mir vorstelle. Haben wir zu viel erwartet? Oder ist unser Blick durch wenige Fälle auf das gute Funktionieren im Alltag verstellt? Haben wir auf eine objektive, immergültige Instanz der Gerechtigkeit gehofft? Demokratie ohne Rechtsstaat ist ohne inneren Halt, aber ein Rechtsstaat entwickelt sich auch ständig durch das demokratische Leben der Gesellschaft und wird gestaltet.
Deshalb ist auch der Rechtsstaat eine beständige Baustelle der Demokratie. Die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter muss immer aufs Neue gesichert werden, um Gesetze gerungen werden.

Vor der Demokratie steht die Rechtsstaatlichkeit.
von Dr. Dietrich Herrmann

 

Rechtsstaatlichkeit als Verpflichtung
von  Wolfgang Behlert, Jena

 

 
 
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Aufklärung

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen." - Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784).
Der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hat aus Untertanen in der DDR Subjekte in der Geschichte gemacht. Der Mut sich unseres Verstandes zu bedienen, nicht gebunden an Zwänge von Mode und Zeitgeist und die Vorgaben der Autoritäten kritisch zu hinterfragen, macht uns auch heute zu Bürgerinnen und Bürgern. Obwohl anstrengend und von Rückschlägen bedroht, ermöglicht die kritische Nutzung des Verstandes eine Fortentwicklung der Demokratie, einer Demokratie, die Menschenwürde und Menschenrechte bestmöglich sichert.
Was brauchen wir an institutionellen Voraussetzungen, um mündige BürgerInnen zu einer unabhängigen Meinung zu befähigen?

 

Mensch, sind wir aufklärt!
von Katrin Göring-Eckardt, Berlin

Aufklärung
von Joachim Gessinger, Werder

 
 
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Toleranz

Eine demokratische Gesellschaft ist in der Lage, ihre eigene Identität kontinuierlich zu definieren, also auch zu ändern. Sie wird sich mit Unbekanntem im Wissen um die eigene Identität mit Neugier auseinandersetzen und sie wird abweichendes Verhalten in diesem Bewusstsein integrieren. Demokratie braucht, da sie immer wieder neu Minderheiten einschließen will, eine aktive Toleranz, ein einschließendes Verhalten gegenüber verschiedenen Arten von Differenz: sexueller und kultureller, politischer und religiöser, ethnischer und sozialer Differenz.
Sie wird sich wo notwendig von grundsätzlich demokratiefeindlichen Ideologien abgrenzen.
Toleranz kann in staatlichen Institutionen verankert werden, zu einer Eigenschaft einer Gesellschaft wird sie aber dadurch, dass Bürgerinnen und Bürger dafür verantwortlich fühlen und sich darin üben.
Heute schon tolerant gewesen?

 

T- wie Toleranz - vielleicht wird´s ja doch noch was?
Beitrag von Jan Grünfeld, Freienorla

Toleranz und Intoleranz
von  Erhard Stölting, Potsdam

 
 
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Internet

Demokratie lebt durch Menschen, muss sich aber Formen und Institutionen suchen. Das Internet ist dabei ein besonders dynamischer und umstrittener Ort. Es ermöglicht einen nicht hierarchischen Zugang zu Informationen und zur Verbreitung und Diskussion von Meinungen. Es spiegelt aber auch die Unübersichtlichkeit und Fragmentierung der globalisierten Gesellschaft überdeutlich. Gleichzeitig bemühen sich Parteien und politische Einrichtungen (und Stiftungen) um eine Erweiterung ihrer Arbeitsformen in das Internet – mehr oder weniger geschickt und erfolgreich. Ist das elektronische Netz ein Ort der Meinungsbildung und der Willensbekundung? Wen schließt das Internet ein oder aus? Macht das Internet schlauer oder banalisiert es demokratische Prozesse zu sehr? Ist das Internet Plattform politischer Aktion oder Manipulation? Ist es überhaupt beeinflussbar oder komplett autark?

Das Internet ist eine politische Macht
von Dr. Alexander Thumfart, Erfurt

 
 
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Europa

Im Alltag ist Europa längst ein herrlicher Ort des Genusses und der Freiheit, ein Raum des Austausches, des gemeinsamen Lernens, Liebens und Wirtschaftens.
In der politischen Sphäre scheint es ein anderes Europa zu geben: unerklärlich, undurchschaubar, unbeeinflussbar. Wie ein dunkler Schatten schwebt es bedrohlich über den Parlamenten in den Ländern und Kommunen. Wer oder was produziert dieses Bild? Wird Europa als Popanz von feigen Politikerinnen und Politikern missbraucht, die auf andere zeigen, wenn sie sich für ihre Entscheidungen nicht verantworten wollen oder keine Entscheidungen treffen wollen?
Ist eine Union in dieser Größe transparent und demokratisch zu gestalten? Haben wir ausreichend gemeinsame Interessen, um die politische Union auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weiter zu entwickeln?
Der Zauber Europas entsteht durch die Kombination aus unseren Fähigkeiten und Eigenheiten in Europa, aus der Nutzung der vielen Möglichkeiten des Austausches. Auch wenn der Lissabonvertrag offiziell keine Hymne und keine Fahne für Europa enthält, sind die gelben Sterne auf blauem Grund und Beethovens Ode an die Freude längst lebendige Symbole der Union geworden.
Wie entwickeln wir aus den europäischen Programmen, Fonds und Institutionen ein lebendiges, demokratisches Europa?

Demokratie und Europa
von Prof. Dr. Timm Beichelt

 

E wie Europa
von Prof. Dr. Wolfgang Berg, Merseburg