Ausländische »Vertragsarbeitskräfte« in Ostdeutschland vor und nach 1989/90 – politische Rahmenbedingungen und biografische Erfahrungen

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Frau Sa (2. Reihe, 2. von links) mit ihrer Studiengruppe bei einer 1. Mai-Demonstration Anfang der 1970er Jahre (aus der Ausstellung Dresden | 1989 | Dresden im Rahmen von Himmelweit gleich - Europas´89)

»Dazubleiben war eine mutige Entscheidung!«

Anlässlich des 20. Jubiläums der Friedlichen Revolution in der DDR wurde bei zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, in den Medien und in der Wissenschaft der Ereignisse sowie der Folgen des Jahres 1989/90 in Deutschland gedacht. Die Tatsache jedoch, dass 1989 etwa 191.000 Ausländer in der DDR lebten und ebenso mit den revolutionären Veränderungen wie auch deren langfristigen Folgen konfrontiert gewesen sind, hat im Erinnerungsjahr 2009 kaum Aufmerksamkeit erregt. Ca. 90.000 der in der DDR lebenden ausländischen Bürger waren in den Jahren zuvor als so genannte »Vertragsarbeitskräfte« in die DDR gekommen. Das Jahr 1989 hat das Leben auch dieser Menschen dramatisch verändert.

In Dresden leben 20 Jahre nach 1989 immer noch zahlreiche der ehemaligen Vertragsarbeitskräfte. Ihre Biographien – wie jene von Frau Nguyen Thi Bach Sa, die sich für die Dresdner Ausstellung »brüche. DRESDEN | 1989 | DRESDEN« zu einem ausführlichen Interview bereit fand – werden erst vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Entwicklung in Deutschland verständlich. Ihre Geschichte steht in vielerlei Hinsicht für die Erfahrungen ihrer vietnamesischen Landsleute und anderer ausländischer Mitbürger in Ostdeutschland vor und nach 1989.

Frau Sa kam 1987 nach Dresden und arbeitete für das dortige Werk des VEB Plauener Spitze. Dort betreute sie als Gruppenleiterin die vietnamesischen Arbeiterinnen im Betrieb. Heute setzt sie sich als Sozialpädagogin für die Dresdner Migranten ein. Die Jahre 1989/90 sowie die unmittelbare Zeit danach hat Frau Sa – wie viele andere ehemalige Vertragsarbeiter – als eine für sich und ihre Familie äußerst schwierige Zeit in Erinnerung.

Im »Bruderland« DDR

Viele Vertragsarbeitskräfte der 1980er-Jahre kamen aus Vietnam. Im Jahr 1989 erreichte diese Gruppe unter den ausländischen Arbeitnehmern mit 60.000 Menschen einen Höchststand. Die Anwerbung und Beschäftigung ausländischer Vertragsarbeitskräfte aus sozialistischen »Bruderländern« durch die DDR hatte Mitte der 1960er-Jahre mit dem Einsatz ungarischer Facharbeiter begonnen. Später entsandten auch Polen, Algerien und Kuba Vertragsarbeitskräfte. In den 1980er-Jahren kamen neben Vietnamesen vor allem Menschen aus Mosambik und Angola. Die DDR schloss mit den Entsendestaaten Regierungsabkommen, auf deren Grundlage zumeist junge Menschen angeworben und in der DDR beschäftigt wurden. Ihr Aufenthalt in der DDR war meist auf vier bis fünf Jahre begrenzt. Die Beschäftigung in den einzelnen Betrieben war zunächst mit einer betrieblichen Ausbildung verknüpft. Seit Mitte der 1980er-Jahre trat dieser Aspekt allerdings zugunsten der Nutzung der Arbeitskraft zunehmend in den Hintergrund.

In der DDR wurden ausländische Arbeitskräfte dringend gebraucht. Seit Mitte der 1950er-Jahre zeichnete sich die DDR-Planwirtschaft durch einen chronischen Arbeitskräftemangel aus. Die Vertragsarbeitskräfte wurden zunehmend in solchen Betriebe eingesetzt, die wenig attraktive Arbeitsbedingungen boten. Hierzu zählten die Leicht- und die chemische Industrie sowie der Maschinenbau. Dabei konnten bei körperlich anstrengender und oft monotoner Arbeit oft nur geringere Löhne als in anderen Wirtschaftszweigen erzielt werden. Dennoch war ein Arbeitsplatz in der DDR bei vielen begehrt. In Ländern wie Vietnam und Mosambik war die Wirtschaft durch jahrelange Kriege stark geschädigt. Durch eine Arbeit in der DDR konnten viele Vertragsarbeitskräfte ihren Familien in der Heimat regelmäßig Geld, aber auch Kleidungund Lebensmittel schicken.

Die DDR verstand sich zu keiner Zeit als »Einwanderungsland«. Eine echte Integration der Fremden in die Gesellschaft war politisch nicht erwünscht. Ausdruck dafür war die Unterbringung der Vertragsarbeitskräfte in räumlich von der DDR- Bevölkerung abgeschiedenen Wohnblöcken. Das Knüpfen nachbarschaftlicher Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern wurde so erheblich erschwert.

Frau Sa erinnert sich gut an den Alltag in den Wohnheimen des VEB Plauener Spitze in Dresden: Jeweils fünf Personen lebten in einer Zweiraumwohnung. Es war immer laut, vor allem wenn die einzelnen Bewohner in unterschiedlichen Schichten arbeiteten; die einen kochten, während andere schlafen wollten. Das Leben im Wohnheim wurde durch eine Hausordnung geregelt, deren Bestimmungen äußerst strikt waren. Zum Beispiel war der Aufenthalt in den Wohnheimen prinzipiell nur den Bewohnern gestattet; Gäste mussten sich am Eingang des Wohnheimes anmelden.

Die Vertragsarbeitskräfte durften nur allein in die DDR einreisen. Auch Frau Sa musste ihre Kinder bei Verwandten in Vietnam zurücklassen. Ihr Ehemann kam mit nach Dresden, er arbeitete ebenfalls als Vertragsarbeiter. Eine Familiengründung in der DDR war für Vertragsarbeitskräfte unmöglich. Anders als die Frauen aus Ungarn und Polen durften die meisten Vertragsarbeiterinnen in der DDR keine Kinder bekommen. Bei einer Schwangerschaft sahen sich die Frauen vor die schmerzliche Wahl gestellt, entweder eine Abtreibung vornehmen zu lassen, oder vorzeitig in ihre Heimat zurück geschickt zu werden.

Trotz der restriktiven Lebensbedingungen bemühten sich viele Menschen, in die DDR zu kommen. Noch Ende 1989 reisten Vertragsarbeitskräfte in die DDR ein.

Unsichere Zeiten

Waren sie noch wenige Monaten zuvor mit hoher Dringlichkeit angefordert worden, wurde die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte aus Sicht vieler DDR-Betriebe ab Beginn des Jahres 1990 zum Problem. Nach der politischen »Wende« herrschte in vielen Betrieben der wirtschaftliche Notstand; viele mussten innerhalb kürzester Zeit Mitarbeiter entlassen oder sahen sich gezwungen, ganz zu schließen. Die ausländischen Arbeitskräfte waren meist die ersten, denen gekündigt wurde. Bereits im Frühjahr 1990 hatten ca. 60 Prozent aller Vertragsarbeiter ihre Arbeit verloren. Der überwiegende Teil sah sich in dieser turbulenten Situation gezwungen, in die Heimatländer zurückzukehren. Einige Entsendestaaten wie Kuba zogen ihre Staatsbürger aus politischen Gründen sogar geschlossen aus der DDR ab.

Frau Sa blieb bis 1991 beschäftigt, länger als die meisten. Dann wurde auch sie entlassen. Für jene ehemaligen Vertragsarbeitskräfte, die in Deutschland bleiben wollten, begann ein jahrelanges Tauziehen um einen dauerhaften Aufenthaltsstatus. »Dazubleiben war eine mutige Entscheidung«, findet Frau Sa. Vertragsarbeiter erhielten zunächst nur dann eine Aufenthaltsbefugnis, wenn sie einen festen Arbeitsplatz nachweisen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten. Dass ehemalige Vertragsarbeitskräfte ebenso wie ihre ehemaligen deutschen Arbeitskollegen berechtigt waren, Arbeitslosenunterstützung zu beantragen, wussten Frau Sa und ihre Freunde zunächst nicht: »Das hat einem ja niemand gesagt. Alles musste man irgendwie selbst herausfinden.«

Der Gang zu den deutschen Behörden war für viele Ausländer ein Problem, da in der DDR die Einsatzbetriebe alle bürokratischen Angelegenheiten für sie geregelt hatten. Hinzu kamen Verständigungsprobleme, da in den Betrieben – besonders in den späten 1980er-Jahren – nur wenig Deutschunterricht erteilt worden war. Um ein Einkommen zu haben, bleiben zu können und insbesondere um den eigenen Kindern eine Zukunft in Deutschland zu ermöglichen, eröffneten viele Vietnamesen kleine Geschäfte, in denen sie Obst und Gemüse, Textilien oder auch asiatische Lebensmittel zum Kauf anboten. Einige der ehemaligen Vertragsarbeitskräfte handelten in den ersten Jahren illegal mit Zigaretten und machten sich dadurch strafbar.

Schwarz und Weiß

Ein großes Problem, mit dem sehr viele Ausländer in Ostdeutschland nach 1989 konfrontiert wurden, war die zunehmend offene Ausländerfeindlichkeit in der deutschen Bevölkerung. Nach 1989 kam es in Dresden – wie in vielen Städten – zu Übergriffen. Auch Frau Sa wurde zusammen mit vietnamesischen Kollegen während einer Straßenbahnfahrt von deutschen Jugendlichen verbal attackiert: »Die haben uns direkt ins Gesicht gesagt: ‚Ihr Ausländer müsst hier raus, ihr nehmt uns die Arbeitsplätze weg!’ Da wurden einige unserer Leute ganz wütend und haben gesagt: ‚Ihr habt uns doch hierher geholt, und wir arbeiten im Schichtsystem, wo ihr Deutschen nicht gerne gearbeitet habt!’«

In dieser schwierigen Zeit engagierten sich zugleich zahlreiche Dresdner für die Belange der ehemaligen Vertragsarbeitskräfte. Der 1990 gegründete »Ausländerrat Dresden e.V.« leistete vielen Ausländer Unterstützung unter anderem bei Behördengängen und bot zur Klärung von Aufenthaltsfragen kostenfrei die Dienste eines Rechtsanwalts an.

Auch der Verein »Cabana«, der heute zum Ökumenischen Informationszentrum Dresden gehört, setzte sich in der Zeit nach 1989 für die Belange der ehemaligen Vertragsarbeiter ein. In Dresden hatte es schon vor 1989 in Kirchgemeinden vom Staat nicht gewollte informelle Treffen zwischen Deutschen und Ausländer gegeben – so genannte »Café Cabana«-Veranstaltungen. Die »Cabana«-Bewegung war in den 1980er-Jahren im kirchlichen Umfeld in (Ost-)Berlin entstanden und engagierte sich für die Verständigung zwischen Ausländer und Deutschen. Seither unterstützt »Cabana« Migranten in Dresden in allen Lebenslagen.

Unter der Schirmherrschaft der evangelischen Kirche arbeitete von 1991 bis Mitte der 1990er-Jahre der Dresdner »Beirat zur Förderung ausländischer Arbeitnehmer«. Bemerkenswerter Weise engagierten sich hier Menschen ganz unterschiedlicher politischer Orientierungen sowie aus kirchlichen und staatlichen Institutionen. Der Beirat organisierte und finanzierte für ehemalige Vertragsarbeitskräfte, vorwiegend aus afrikanischen Herkunftsstaaten, eine Sprach- und Berufsausbildung. Damit verschaffte er ihnen die Grundlage für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland. Auch die Einrichtung des Amtes der kommunalen und regionalen Ausländerbeauftragten in den neuen Bundesländern hat dazu beigetragen, dass die Belange von Ausländer auch auf politischer Ebene zunehmend Gehör gefunden haben.

Heute unterstützt und berät Frau Sa Migranten bei ihren täglichen Problemen in Dresden. Im Jahr 1993 erhielt sie eine Arbeitsstelle im damals neu gegründeten Dresdner »Verein für soziale Integration von Ausländern und Aussiedlern e.V.«. Zu ihr kommen viele Dresdner mit vietnamesischem Migrationshintergrund. »Heimat bleibt immer Heimat!«, sagt Frau Sa. Ihre Sehnsucht nach Vietnam bleibt. Aber zugleich sind sie und ihre Familie entschlossen, zu bleiben und die vielen Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen das Leben in Dresden bietet.

Anne Kirchberg

 

 

Der Text entstand im Rahmen des internationalen Recherche- und Ausstellungsprojektes Himmelweit gleich? – Europas ´89.

Himmelweit ist ein Beitrag zur Würdigung der friedlichen Revolutionen von 1989 in Europa. In der Auseinandersetzung mit diesem epochalen Umbruch setzte Himmelweit als internationales Projekt junger Menschen, die 1989 selbst nicht bewusst miterlebt haben, eigenständige Akzente. Studierende aus Dresden, Prag, Wrocław und Bratislava beschäftigen sich mit dem Wandel der letzten 25 Jahre aus ganz eigener Perspektive. Sie zeigten die Transformation ausgewählter Lebenswelten in ihren Städten ohne lokale Verengung, denn in der grenzübergreifenden Kooperation im Projekt Himmelweit stand die Diskussion der unterschiedlichen Bedeutungen von 1989 in den vier beteiligten Ländern im Zentrum der gemeinsamen Arbeit.

Die in den vier Städten entstandenen Ausstellungen kombinierten den Blick auf den Wandel des eigenen Lebensumfelds mit dem Ausblick auf die vielfältigen Horizonte und Pfade, die der Umbruch von 1989 in den verschiedenen Ländern eröffnete.

Himmelweit gleich? Europas ´89 war eine Kooperation mit dem Edith-Stein-Haus Wroclaw, Punkt, Bratislava, der Brücke/Most-Stiftung Dresden und Prag und dem Goethe-Institut Prag.

Die Ausstellungen wurden im Herbst 2009 in den vier Städten gezeigt, in Dresden auch noch vom Februar bis Juni 2010. Dazu gabe es umfangreiche Veranstaltungsprogramme.

Die Ergebnisse sind in einer Broschüre dokumentiert, die im September 2010 erschienen ist.