Deswegen ist für mich eine Gesellschaft erstrebenswert, in der wirklich alle Kinder die Chance haben, ihre Ressourcen zu entwickeln.

Dr. Anne-Kathrin Olbrich, (Jahrgang 1959), hat Kulturwissenschaften in Leipzig studiert und an der TU Dresden promoviert. Sie hat 2 Kinder und ist verheiratet und arbeitet als Ehe-, Familien und Lebensberaterin und Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberaterin.
 

Anne-Kathrin Olbrich war Gast bei einer öffentlichen Veranstaltung von Weiterdenken am 129. November 2009 im Stadtmuseum Dresden unter dem Titel:
„Ohne Frauen ist kein Staat zu machen- die Wende und die Frauen“

Das Interview führte die Journalistin Claudia Hempel (http://www.claudia-hempel.com/

Das komplette Interview kann hier nachgelesen werden (pdf-Datei, 100 kB).

 

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Haben dich deine Eltern politisch beeinflusst?
Natürlich. Und nicht nur die Eltern. Wir hatten immer ein „offene Haus“.  Vor allem junge Leute kamen gern und immer wieder. Leute, die wenig angepasst waren, die sich und Neues ausprobieren wollten, die wie er neugierig und aktiv im Leben waren. Mein Vaterwar ein Lehrer im besten Sinne des Wortes, einer, dem es nie darum ging, Wissen bei seinen Schülern anzuhäufen. Er wollte bei den Lernenden Verständnis für Zusammenhänge vermitteln, so dass diese selber in der Lage waren, sich eine Meinung zu bilden. Zu seiner größten Genugtuung gehörte es, wenn seine Schüler anfingen, ihm mit guten Argumenten zu widersprechen.
In dieser Atmosphäre wurden die Freunde meiner Eltern auch Freunde von uns Kindern und umgekehrt.
Mein Vater war jederzeit zu Diskussionen zu allen Themen bereit, hatte immer die gesamte politische Landschaft im Blick, das gesellschaftliche Leben in Deutschland, der DDR, in Ilmenau.
Für jemanden, der andere immer ermunterte sich eine eigene Meinung zu bilden, Dogmen und starre Haltungen ablehnte, war es sicher nicht leicht, mit den Widersprüchen des realen Sozialismus zu leben. Er hat eine eigene, sehr ehrliche und pragmatische Art gefunden. Sie war nötig für einen eher internationalen, vielseitig interessierten und gebildeten Geist, um mit der sehr kleinbürgerlichen kleingeistigen Grundhaltung in der DDR zurecht zu kommen.

Hat das Judentum in eurer Familie eine Rolle gespielt?
Kaum. Meine Eltern waren ja nicht religiös. Aber über ihre Geschichten und die Freunde gab es dennoch eine jüdische Identität. Die war nicht vordergründig, wurde aber auch nicht verleugnet. Und spätestens in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte – oder im Konflikt mit manchen Mitmenschen wird man unweigerlich zur Auseinandersetzung mit dieser Identität gezwungen. Man kann ja nicht aus so einer Geschichte einfach aussteigen. Das prägt. Und zwar in beiden Richtungen: Schön, wie auch unschön.
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Kurz danach war ja auch der erste freie Frühlingssalon.
Ja. Bis dahin war es so, dass die Studenten beim jährlichen Frühlingssalon ausschließlich das ausstellen durften, was sie in ihren Klassen gemacht hatten und diese Arbeiten wurde vorher von den Lehrern nach begutachtet.
Diesmal konnten die Studenten ausstellen, was sie wollten. Die Restauratoren konnten eigene Bilder ausstellen, die Maler Installationen …Sie konnten wirklich frei entscheiden. Das war so eine irre Ausstellung.
Es war ein wahnsinnig schöner Tag, der Himmel war blau und es war eine bezaubernde Stimmung. Über der gesamten Kunsthochschule hingen viele bunte Tücher und an der Decke hatten die Studenten Emailleschüsseln aufgehangen, denn das Dach war ja kaputt. Vor dem Eingangsbereich, direkt auf der Brühlschen Terrasse gab es eine große Installation aus Müll. Die sollte auf die Umweltproblematik aufmerksam machen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, an die Empörung einiger Dresdner Bürger. Das würde überhaupt nicht hin passen und es sei eine Verschandelung unserer schönen Brühlschen Terasse.
Aber die Stimmung an der Kunsthochschule war toll. Wir sind uns um den Hals gefallen.
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Du warst viel unterwegs?
Wenn ich heute zurück denke, dann habe ein widersprüchliches Gefühl. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich viel verpasst habe, weil ich in erster Linie für Judith da war. Aber andererseits habe ich doch auch viel mitgemacht. Ich war am Runden „Tisch der Frauen“ aus dem eine ganze Reihe von Frauenprojekten hervorgegangen ist, die heute noch aktiv sind. Z.B. das Frauenschutzhaus und das Frauenförderwerk, um nur zwei zu erwähnen. Mit Astrid Bodenstein haben wir den ersten sächsischen Landesfrauenrat mit geprägt: bewusst nannten wir ihn Sächsisches Frauenforum, weil wir mehr basisdemokratische Elemente in der Satzung aufnahmen. Wir wollten auch den Frauenprojekten Raum geben, nicht nur landesweit agierenden Verbänden. Daneben war ich hin und wieder auf anderen politischen Versammlungen.
Und trotzdem – die großen Demonstrationen und Umwälzungen habe ich nicht miterlebt. Da ist schon ein bisschen Wehmut.
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Heute arbeitest du in der Familienberatung, hat die Arbeit dort dein Weltbild verändert oder konkreter gemacht?
Menschlich hat sie mein Weltbild verändert, nicht politisch. Politisch ist es einfach nur bestätigend. Aber es hat mein Weltbild durchaus konkreter gemacht.
Am Anfang hatte ich ganz starke Bedenken, wie ich mit Menschen, die aus eher bildungsfernen Zusammenhängen kommen, eine Beziehung aufbauen kann, ob ich das gut schaffe. Ich hatte ja vorher kaum mit solchen Menschen direkt zu tun. In meiner Arbeit vorher waren sie zwar da, aber nur theoretisch als politische Größe.
Und eine meiner schönsten Erfahrungen innerhalb meiner Ausbildung war: Du bekommst einen völlig anderen Zugang und einen anderen Blick und es war überhaupt kein Problem mit ihnen zu arbeiten.
Die kommen mit so einem Vertrauensvorschuss in so eine Beratung und öffnen sich auf eine Art und Weise, wo du die Ressourcen auch sehen kannst. Das ist ganz anders, als wenn du sie nur mal auf der Straße siehst.
Und gleichzeitig wirst du auch verwundbarer oder aggressiver – je nachdem.

Wie meinst du das?
Gestern musste ich wieder mal so eine Talkshow im Fernsehen ausschalten, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, wenn da so ein Professor sitzt und argumentiert, dass Hartz IV eigentlich noch viel zu gut für die Leute sei, denn er hätte jemanden getroffen, der meinte er hätte einen Job für 2200 Euro abgelehnt, denn mit Hartz IV käme er auf 1800 Euro, da kriege ich so einen Hals. Ich denke immer, von wem reden die denn?
In meiner Arbeit treffe ich solche Menschen nicht. Und was ist mit all den so genannten Aufstockern? Was ist mit Friseusen oder Floristinnen, die auch mit 40 Stunden Arbeit nicht auf ein existenzsicherndes Einkommen kommen und zusätzlich Hartz IV bekommen?
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Siehst du dich politisch als links?
Natürlich.

Warum?
Für mich verbindet sich Linkssein immer noch mit dem schönen Satz: Ich möchte eine Gesellschaft in der die Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist. – Das ist aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx.
Stephan Hermlin hat mal ein Buch darüber geschrieben, das  „Abendlicht“, in dem er sehr schön beschreibt, dass er es früher immer anders herum gelesen hätte. Er meinte gelesen zu haben, die Entwicklung aller sei die Bedingung für die Entwicklung jedes einzelnen. Und so war ja auch der reale Sozialismus angelegt, so nach dem Motto: erstmal müssen alle anderen, ehe du dich selbst entwickeln darfst. Was für eine Überraschung, auf einmal zu merken, dass man einen solchen Gedanken völlig falsch gelesen und interpretiert hat – und auf einmal eine richtige Entdeckung macht.
Deswegen ist für mich eine Gesellschaft erstrebenswert, in der wirklich alle Kinder die Chance haben, ihre Ressourcen zu entwickeln.