Die Idealisten machen die Revolution, dann kommen die Materialisten...

Frank Grünert, geboren 1939 in Zwickau, verheiratet, Kinder, Arzt. 1989 schloss er sich dem NEUEN FORUM an, war einer der beiden politischen Sprecher, wurde als Stadtrat gewählt und machte sich schließlich als Orthopäde selbstständig.

 

Das Porträt schrieb der Journalist Pit Fiedler auf der Grundlage von Oral-History Interviews.

Das komplette Porträt ist in dem Buch „Bürgermut macht Politik. 1989/90 – Neues Forum Plauen. Bürgerforum Cheb“ (Eckhard Bodner Verlag) nachzulesen.

 

Meine Geburt am 9. September 1939 in Zwickau und die Einziehung meines Vaters zum Militär fielen fast zusammen. Das war umso einschneidender, als sich mein Vater nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium in Gotha als Baumeister gerade selbständig gemacht und eine kleine Baufirma aufgebaut hatte.

Nach dem Krieg war die Baufirma futsch, und mein Vater arbeitete schließlich bei der Wismut als Angestellter. Politisch war er interessiert, aber er war auch irgendwie auf der Strecke gebrochen und jedenfalls kein Widerständler. Meine Mutter versorgte als Hausfrau uns drei Kinder – mich, meine Schwester und meinen Bruder –, dann arbeitete sie noch bis zur Rente im Verkauf einer Fleischerei. Zur Arbeiterklasse zählten wir uns nicht.

Nach Plauen kam ich 1968 in meiner Assistenzzeit als Arzt an die Orthopädische Klinik.1972 als Leiter der orthopädischen Abteilung der Plauener Poliklinik Gartenstraße angestellt. Dort war ich letztlich bis zur Wende tätig.

Politisch prägte mich über die Jahre besonders die Selbstdarstellung der SED-Führung. Es war für mich das größte Grauen, die Politiker auf Veranstaltungen zum 1. Mai, zu denen ich in den letzten zehn Jahren ohnehin nicht mehr gegangen bin, reden zu hören oder in der Zeitung diesen Parteijargon zu lesen. Ich will nicht behaupten, dass die Leute alle dumm waren, aber ihre Bauernschläue und ihre Art zu sprechen ärgerte mich fürchterlich. Ich orientierte mich fast ausschließlich an den Nachrichten westlicher Medien. Die Deutsche Demokratische Republik war für mich absolut kein politisches Vaterland.
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Das Leben in Plauen ging unterdessen seinen sozialistischen Gang mit allen Schwächen, aber natürlich auch mit einigen Stärken im Alltag. Zu den Stärken, die wir vielleicht auch heute wieder herausarbeiten sollten, gehörte der Zusammenhalt in der Nische. Gemeinsame Aktivitäten im Freundeskreis oder innerhalb der Familie waren stark ausgeprägt. Eine oppositionelle politische Bewegung gab es in Plauen nicht. Das hätte ich gewusst. Denn ich hatte seit meiner Oberschulzeit einen Gedanken fest im Kopf: Sobald sich eine machtvolle Opposition gegen diesen Staat entwickelt - wie das dann  mit dem NEUE FORUM der Fall war - , bin ich dabei. Das war von jeher mein Credo.

In der ersten Oktoberwoche 1989 waren die besetzten Botschaften in Prag, Warschau und Budapest sowie die jungen Leute, die über die geöffnete ungarische Grenze in die Bundesrepublik flohen, in aller Munde. Ich machte mit meiner Frau Kurzurlaub im Böhmerwald (Šumava) und hing in unserem Urlaubsdomizil mehr am Radio als dass ich gewandert wäre. Ich überlegte: Fahren wir nach Prag oder fahren wir nicht nach Prag? Über den Rundfunk bekam ich mit, dass die DDR-Führung die Grenze schloss, damit sich DDR-Bürger nicht weiterhin in Prag zur Ausreise melden konnten. Als ich schließlich von den Zügen mit den Botschaftsflüchtlingen hörte, die die DDR-Führung aus Prag über Dresden und Plauen nach West-Deutschland passieren ließ, und den tumultartigen Szenen in den Bahnhöfen, dachte ich: „Jetzt fahren wir zurück. Jetzt machen wir richtig mit.“

Genau am 7. Oktober kamen wir an die Grenzstation. Die Grenzer in Schönberg guckten ganz entgeistert: „Da kommt einer aus der Tschechoslowakei zurück!“ Sie begrüßten uns regelrecht mit Handschlag. In Plauen kamen wir später am „Tunnel“ in der Stadtmitte vorbei und sahen plötzlich diese Menschenmasse. Ich dachte: „Um Gottes Willen. Diese Plauener! Jetzt haben sie eine Meise. Jetzt feiern sie den 40. Jahrestag der DDR.“ Abends erfuhren wir bei Bekannten, dass es eine Demonstration war. Tags darauf kam ein junger Mann in meine Sprechstunde im Kabelwerk, der über Kopfschmerzen klagte, seit er Schläge bekommen hatte. Er erzählte, dass Einsatzkräfte aus Plauen abends auf dem Postplatz willkürlich junge Leute verhaftet hätten. Die Einsatzzentrale in Karl-Marx-Stadt hatte die Plauener gerügt, dass keine Rädelsführer aus der Demonstration am Nachmittag „zugeführt“ worden seien.

Kontakt zum NEUEN FORUM fand ich allerdings erst ein paar Tage später auf einer Dienstbesprechung des „Ambulanten Medizinischen Versorgungsbereichs Plauen“, an der alle ambulant tätigen Ärzte teilnahmen. Die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung veranlasste uns damals, die heißen Themen offener anzusprechen. Das war nicht ungefährlich, weil, wie wir heute wissen, die Leute von „Horch und Guck“ überall dabei waren. Ich meldete mich und sagte: „Es ist schön und gut, wenn wir hier unseren Ärger los werden und Protest anmelden. Aber wir müssten etwas dagegen tun.“ Nach dieser Veranstaltung sprach mich im Hof Christel Ruddigkeit, eine Zahnärztin, an und sagte ganz vorsichtig, wie das ja notwendig war: „Wenn Sie interessiert sind, kann ich das vermitteln.“ Sie gab mir eine Adresse.
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Für mich war dieser Schritt in den dunklen Saal der Wendepunkt. Erst einmal dabei war ich, wie meine jetzige, zweite Frau am besten weiß, kaum noch zu Hause. Die Aktiven im NEUEN FORUM, wie wir uns damals schon genannt haben, trafen sich fast täglich. … Bei Zusammenkünften in Privatwohnungen, Kirchensälen und Gaststätten klärten wir, wie das NEUE FORUM arbeiten sollte, und erarbeiteten verschiedene Programme. Wir sahen es als unsere Hauptaufgabe an, fachlich versierte Leute zu finden, die mit dem vorhandenen Kreis von Stadträten verhandeln konnten. Wir wollten etwas von unseren oppositionellen Ideen in der Stadt verwirklichen. Denn keiner von uns ahnte damals, dass sich das DDR-Regime in Luft auflösen würde.

Wir bildeten deshalb peu à peu Arbeitsgruppen mit Fachleuten für die kommunalen Ressorts: Wirtschaft, Kultur, Wahlen, Gesundheitswesen usw. Jede Gruppe hatte ihren Sprecher. Jürgen Winkler und ich waren die politischen Sprecher des NEUEN FORUMs in Plauen und vertraten das NEUE FORUM nach außen, zum Beispiel bei den Demonstrationen.
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Öffentlichkeitswirksam waren in Plauen aber vor allem die machtvollen Demonstrationen. Nach einer Abmachung zwischen dem Superintendenten Küttler, den neuen Gruppen und den Blockparteien sollte sonnabends bis zu den ersten freien Wahlen prinzipiell demonstriert werden außer in der Zeit zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr. Dem NEUEN FORUM gelang es nach den ersten eindrucksvollen Demonstrationen auch, mit der Leitung der Volkspolizei eine „Sicherheitspartnerschaft“ zu schließen. Beide Seiten wollten verhindern, dass es auf den regelmäßigen Samstags-Demonstrationen zu Provokationen mit unabsehbaren Folgen kommen könnte.
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An den Demonstrationen nahm immer ein harter Kern teil. Die meisten waren Plauener, die regelmäßig in voller Zahl angetreten sind. Die Schätzungen lagen zwischen zwanzig- und vierzigtausend Demonstranten. Der Charakter der Demonstrationen als entschlossener Protest gegen das DDR-Regime veränderte sich über die Monate nicht, wohl aber ihr Inhalt. Anfangs waren wir natürlich sehr, sehr vorsichtig, was zum Beispiel das Thema Wiedervereinigung  anging. Ursprünglich verfolgte das NEUE FORUM auch nicht dieses Ziel. Während eines Umzugs wurde dann plötzlich auch gerufen: „ Deutschland – einig Vaterland!“ Wir erschraken, weil wir dachten, die Stasi hätte jetzt einen Grund einzugreifen. Aber nichts rührte sich. Die Rufe wurden lauter: „Wir sind ein Volk!“. Die Rufe wurden immer lauter und auch selbstbewusster, und wir haben uns dieser Forderung dann auch angeschlossen.
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Meine Zeit beim NEUEN FORUM ging zu Ende. Wir standen vor den Alternativen Wählbarkeit, Auflösung oder Vereinigung mit den Grünen. Bei einem Treffen des NEUEN FORUMs konnte jeder für sich entscheiden: Gehe ich in das Bündnis 90/Die Grünen, bleibe ich im NEUEN FORUM oder verlasse ich die Gruppierung? Ich hatte von den Grünen West keine besonders hohe Meinung. Die Mehrzahl ist dann doch – vermutlich aus pragmatischen Gründen – dem Bündnis 90/Die Grünen beigetreten.

Heute bin ich ein gewesener niedergelassener Orthopäde, der seit 2005 Altersrentner ist und sicherlich zu den Gewinnern der Friedlichen Revolution zählt. Denn ich machte mich 1990 zusammen mit fünf weiteren Ärzten und zwei Physiotherapeuten aus der Poliklinik selbständig. Dazu mussten wir einen ganz schön gehörigen Kredit aufnehmen. In meinem Fall klappte es, ihn bis zur Rente zu tilgen und mir daneben auch noch einen gewissen Wohlstand zu erarbeiten. Er garantiert mir ein sorgloses Alter. Wäre ich krank geworden, wäre das ganze Vorhaben geplatzt.

Ich behaupte nach wie vor, ein Realist zu sein. Das NEUE FORUM zeichnete für mich - zurückblickend - dieser phantastische Zusammenhalt zwischen den Leuten, ob jung, ob alt, ob Arbeiter, Intelligenzler oder Rentner, ob Frau, ob Mann aus. Alle verfolgten das Ziel, diesen verhassten Staat endgültig zu beseitigen, Reisefreiheit zu haben, hochwertige Konsumgüter kaufen zu können. Die politische Couleur spielte überhaupt keine Rolle. Als diese Ziele erreicht waren, sind die Leute in die verschiedensten Richtungen abgebogen oder sind eben einfach auseinander gegangen. Ich sage immer: Die Idealisten machen die Revolution, dann kommen die Materialisten und machen die Politik.