Salon Surveillance - Das Ende des Versammlungsrechts?

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Jens Lehmann ist Jurist in Dresden und war Gast im Salon Surveillance am 18. Mai 2010 in der Moritzbastei Leipzig zur Veranstaltung "Das Ende des Versammlungsrechts?" - einer Kooperation von Weiterdenken und Engagierte Wissenschaft e.V. / A G Kids Control.

 

Die jüngsten Veränderungen der räumlichen Voraussetzungen für die Ausübung der Versammlungsfreiheit erfolgten vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungen, die sich aufgrund ihrer partiell identischen Ursachen aber überlagern und wechselseitig ergänzen: Die Zunahme medialer Präsenz rechtsextremer Versammlungen und der räumliche Strukturwandel der Öffentlichkeit. Während das Phänomen des Rechtsextremismus räumliche Bezüge aufweist, decken sich die sozialen und ökonomischen Ursachen und Folgen des räumlichen Strukturwandels der Öffentlichkeit zum Teil mit Faktoren, die auch mitverantwortlich sind für die wachsende Präsenz rechtsextremistischer Einstellungen in wachsenden Bevölkerungsteilen. Der Rückzug des Staates durch Privatisierung bis dato staatlicher Aufgaben im Bereich der öffentlichen Infrastruktur, Daseinsvorsorge und Sicherheit – etwa durch die Privatisierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, städtischer Eigenbetriebe, kommunaler Liegenschaften und den Einsatz privater Sicherheits- und Wachdienste – führt nicht nur zu Veränderungen des öffentlichen Raumes selbst. Im Zuge der mit rechtlichen, baulichen und ökonomischen Instrumenten vorangetriebenen, ästhetischen und sozialen Homogenisierung öffentlicher Räume sinkt auch die Toleranzschwelle der Bevölkerung gegenüber Fremdheit und Devianz. Steigender ästhetischer Homogenitätsdruck und gesellschaftliche Ausgrenzung aufgrund fortschreitender sozialer Spaltung fördern sozialdarwinistisches Denken im Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen und sozial Schwachen. Da (noch) schwächere soziale Gruppen verstärkt unter Migrantinnen und Migranten zu finden sind, verbindet es sich oftmals mit der rassistischen NS-Ideologie der extremen Rechten.

Umgekehrt weisen die ideologischen Versatzstücke der extremen Rechten ihrerseits ausgeprägte räumliche Bezüge auf. So werden etwa „national befreite Zonen“ propagiert und „durchgesetzt“, in denen Angehörige sozial schwacher Gruppen in besonderem Maße gefährdet sind, Opfer von Diskriminierungen bis hin zu offener Gewalt zu werden. Auch speziell in der „Demonstrationspolitik“ der extremen Rechten in Deutschland vollzieht sich seit Anfang des letzten Jahrzehnts ein raumbezogener Trend. Seither versuchen rechtsextreme Kreise gezielt, Orte (und Tage) mit besonderer symbolischer Bedeutung für ihre Agitation zu nutzen. Die Versammlungsbehörden reagierten darauf, indem sie kurzerhand diesen besonderen Symbolgehalt selbst zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit und zum Rechtfertigungsgrund für Versammlungsverbote erklärten. So begründete der Polizeipräsident von Berlin im Jahr 2000 das Verbot einer in zeitlicher Nähe zum Jahrestag der Machtübertragung auf Hitler von der NPD angemeldeten Demonstration Rechtsextremer am Brandenburger Tor unter anderem damit, dass bei Durchführung der Versammlung dessen besonderer Symbolgehalt als Sinnbild der deutschen Einheit beeinträchtigt würde.

So schillernd der Versuch ist, Beschränkungen extremistischer Versammlungen mit dem besonderen Schutzbedürfnis des Symbolgehalts eines Ortes zu rechtfertigen, so konturlos ist dieses Argument in Rechtsprechung und Schrifttum zum Versammlungsrecht in der Folge geblieben. Umso bezeichnender ist es, dass es von der Legislative dennoch umgehend aufgegriffen wurde. Bereits in den Jahren 2000 und 2001 wurden mehrere Gesetzentwürfe zur Verschärfung des Versammlungsrechts vorgelegt, die unter anderem erweiterte Eingriffsbefugnisse gegenüber Versammlungen an symbolträchtigen Orten vorsahen. Dogmatisch bauten die Entwürfe überwiegend auf einer Verräumlichung des Ansehens der Bundesrepublik bzw. der Würde oder der persönlichen Ehre der Opfer des Nationalsozialismus auf. 

 

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Im Frühjahr 2005 verabschiedete der Bundestag schließlich eine Ergänzung des § 15 des Versammlungsgesetzes des Bundes um einen neuen zweiten Absatz, der für „rechtsextremistische“ Versammlungen an bestimmten symbolträchtigen Orten spezielle Eingriffsermächtigungen vorsieht, „wenn 1. die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert, und 2. nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird.“ Beschränkt waren diese ortsbezogenen Eingriffsermächtigungen noch auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin und andere, durch den Gesetzgeber festzulegende Orte nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VersG (Bund).

Bereits ein Jahr später wurde die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht im Rahmen der Föderalismusreform I jedoch auf die Länder übertragen. Brandenburg machte daraufhin als erstes Bundesland von der neuen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch. Es verabschiedete noch im Jahr 2006 spezielle Eingriffsermächtigungen gegenüber Versammlungen an und in der Nähe von Gräberstätten. Gerechtfertigt wurden diese räumlichen Versammlungsverbote an und auf Gräberstätten in Brandenburg mit dem Schutz der Würde der dort begrabenen Opfer des Nationalsozialismus. Geschützt werden sollen insbesondere die in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gefallenen, in den Kriegsgräbern beigesetzten Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkrieges. Ihr in Erfüllung ihres Eides gegenüber Adolf Hitler eingetretenes Leiden und Sterben, das im Todeszeitpunkt noch als heldenhaft galt, wird dazu postum zu einer Verletzung ihrer Menschenwürde umgewertet, dessen positive Darstellung sie über sechzig Jahre nach ihrem Tod erneut in ihrem immer noch fortbestehenden postmortalen Achtungsanspruch aus Art. 1 GG (Menschenwürde) verletze.

Im Jahr 2008 verabschiedete Bayern als erstes Bundesland ein umfassendes Landesversammlungsgesetz (BayVersG), das das Bundesgesetz vollständig ersetzt.28 Statt sich an dem Musterentwurf einer Arbeitsgruppe mehrerer Bundesländer, der eine „Generalrevision des alten Versammlungsrechts“ vorsah, zu orientieren, wurden darin unter anderem die Befugnisse zur Datenerfassung und -speicherung erheblich erweitert. Daneben enthält auch das Bayerische Versammlungsgesetz spezielle Eingriffsbefugnisse gegenüber „rechtsextremistischen“ Versammlungen an bestimmten Orten. Mit Ausnahme dieser Regelung, die mit der Klage ausdrücklich nicht angegriffen werden sollte, steht das erst am 1. Oktober 2008 in Kraft getretene Bayrische Versammlungsgesetz inzwischen bereits wieder vor einer Revision, nachdem das Bundesverfassungsgericht wesentliche Vorschriften des Gesetzes im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG wegen mutmaßlicher erfassungswidrigkeit vorläufig außer Kraft gesetzt hat.

Weitere Gesetzesentwürfe für ein eigenes Landesgesetz gibt es derzeit in Niedersachsen und Baden-Württemberg. Die Gesetzesentwürfe Baden-Württembergs und Niedersachsens orientieren sich stark am BayVersG. In Bezug auf Videoüberwachung sind im Entwurf des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes und desjenigen für Baden-Württemberg sogar noch weitergehende Regelungen vorgesehen. So sollen Videoaufnahmen von Versammlungen selbst dann drei Jahre gespeichert werden können, wenn keine Verwertung für eine Strafverfolgung gegeben ist. Ebenso wie nach dem BayVersG besteht die Möglichkeit, Videoaufzeichnungen für Fort- und Ausbildungszwecke der Polizei aufzubewahren, ohne diese je löschen zu müssen.

Bereits in Kraft getreten sind Ende 2009 das Landesversammlungsgesetz von Sachsen-Anhalt und Anfang 2010 das von Sachsen. Mit dem Sächsischen Versammlungsgesetz erreicht der Trend des letzten Jahrzehnts zu raumbezogenen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit einen vorläufigen Höhepunkt. Durch das Gesetz wird letzten Endes die in seit einigen Jahren sukzessive revisionistisch gewendete staatliche Erinnerungskultur an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zum versammlungsfesten Schutzgut erhoben. Über die Beschränkungsvoraussetzungen für Versammlungen an sogenannten Erinnerungsorten an Krieg und Gewaltherrschaft werden zudem Versatzstücke der höchst umstrittenen sogenannten Totalitarismustheorie in das Sächsische Versammlungsgesetz inkorporiert. Damit werden auch die „unausgetragenen Probleme“ dieser Doktrin in Sachsen justiziabler Bestandteil des von den Kommunen zu vollziehenden Versammlungsrechts. Kennzeichnend für die Inkorporation ist die Gleichsetzung von „nationalsozialistischer“ und „kommunistischer Gewaltherrschaft“. Ob und inwieweit diese Gleichsetzung geschichtlich haltbar ist, wird indes nicht nur von Historikern heftig diskutiert, sondern dürfte auch aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch sein: Zu den zentralen Grundrechten des Grundgesetzes gehört der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Er gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Zur Frage der Vergleichbarkeit des NS-Regimes und des von ihm zu verantwortenden Unrechts mit dem Regime der DDR und dem DDR-Unrecht hat der Bundesgerichtshof (BGH) bereits im Jahr 1995 konstatiert: „Das staatlich verübte Unrecht in der DDR kann mit Rücksicht auf die unterschiedliche Dimension nicht mit dem im nationalsozialistischen Regime begangenen gleichgesetzt werden (...). Eine so vollständige Missachtung der Ideen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie sie das Bild der NS-Justiz prägt, hat es in der DDR-Justiz (vielleicht abgesehen von Verfahren in den ,Waldheim-Prozessen‘) nicht gegeben.“ In seinem Wunsiedel-Beschluss hat nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass die unter dem NS-Regime begangenen realen Verbrechen „in der Geschichte einmalig und an Menschenverachtung nicht zu überbieten sind“ und angesichts dessen von der „Einzigartigkeit der Verbrechen der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft und der daraus folgenden Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland“ gesprochen, die „auf andere Konflikte nicht übertragbar“ sei. Ist mithin bereits die gesetzgeberische Gleichsetzung als solche höchst problematisch, so kann erst recht nicht überzeugen, dass für die Beurteilung, ob ein Ort in herausragender Weise an die nationalozialistische oder „kommunistische Gewaltherrschaft“ erinnert, die örtlichen Versammlungsbehörden zuständig sein sollen. Denn infolgedessen können die Kommunen überall in Sachsen nach eigenem Gutdünken Totalitarismusdoktrin betreiben, indem sie entscheiden, ob eine Versammlung an einem solchen Erinnerungsort stattfindet und ob und inwiefern sie der staatlichen Erinnerungspolitik widerspricht, weil sie sich gegen die Opfer „nationalsozialistischer oder kommunistischer Gewaltherrschaft“ oder die Opfer eines Krieges richtet und nach den feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass deren Würde durch die Versammlung oder den Aufzug beeinträchtigt werden würde.  

Unabhängig von besonderen Versammlungsorten überführt das Sächsische Versammlungsgesetz überdies den sogenannten Besorgnisgrundsatz aus seinem Ursprungskontext des Schutzes des Wasserhaushalts in das von völlig anderen Rechtspositionen, Interessenkollisionen und Konfliktlinien geprägte Versammlungsrecht: Das Wasserrecht „legt die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest. Auch entfernte Wahrscheinlichkeiten, dass es zu einer Beeinträchtigung des Grundwassers kommen kann, sind auszuschließen“

. Gemäß dem Besorgnisgrundsatz soll im Wasserrecht „vorbeugend grundsätzlich jede nachteilige Veränderung des Grundwassers verhindert werden“. Eine wasserrechtliche Besorgnis liegt demgemäß bereits dann vor, wenn „die Möglichkeit eines entsprechenden Schadenseintritts nach den gegebenen Umständen und im Rahmen einer sachlich vertretbaren, auf konkreten Feststellungen beruhenden Prognose nicht von der Hand zu weisen ist“. Nach den bislang geltenden versammlungsrechtlichen Maßstäben durften Versammlungen demgegenüber nur dann mit Auflagen versehen oder ganz verboten werden, wenn der Demonstrationsfreiheit zumindest gleichwertige Rechtsgüter andernfalls mit höchster, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verletzt zu werden drohten. Reicht nunmehr bereits die entfernte Möglichkeit einer Gefahr für solche Rechtsgüter aus, um Versammlungen beschränken oder ganz verbieten zu können, so muss faktisch nicht mehr die Versammlungsbehörde beweisen, dass eine Versammlung eine solche Gefahr darstellt, sondern Anmelder müssen begründen, dass und weshalb sie, ihr Anhang und die geplante Veranstaltung keine Gefahr für der Versammlungsfreiheit gleichwertige Rechtsgüter darstellen.