Tagung: Die Grenzen der Menschenrechte
Die Hoffnung vieler Flüchtlinge auf Schutz vor Verfolgung oder auf ein menschenwürdiges Leben scheitert oft schon an den Außengrenzen der EU. Die Bereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten, Flüchtlinge auf ihren Territorien aufzunehmen und in ihre Gesellschaften zu integrieren, ist nach wie vor äußerst gering. Dem Vorwurf, die reiche „Festung Europa“ schotte sich vor Flüchtlingen immer weiter ab, stehen oft komplexe politische Fragestellungen gegenüber, die dringend lokaler, nationaler und internationaler Lösungen bedürfen. Flucht und Migration gehören seit langem auch zu den Schwerpunktthemen der Heinrich Böll Stiftungen. Die Tagung „Die Grenzen der Menschenrechte“ näherte sich den aktuellen Herausforderungen demokratischer Rechtsstaaten durch Migration über Positionen aus der politischen Theorie. Diese Kooperation des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden, dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden und Weiterdenken – Heinrich Böll Stiftung Sachsen fand großen Zuspruch. Die intensiven Debatten zeigten, wie stark das Bedürfnis vieler nach einer Auseinandersetzung mit den Fragen zu Recht und Gerechtigkeit in diesem Politikfeld ist.
Wir freuen uns, die vorgestellten wissenschaftlichen Arbeiten hier präsentieren zu können und hoffen, dass die Beiträge zu neuen Denkanstößen und politischem Engagement führen.
Einleitung
Der Flüchtling als Grenzfigur des Rechts
Autorin: Dr. Julia Schulze Wessel
Das 20. Jahrhundert gilt vielen als ein ‚Jahrhundert der Flüchtlinge’. Es ist geprägt von millionenfach erzwungenen und hoffnungslosen Wanderungen. Es ist das Jahrhundert einer für viele Fliehenden aussichtslosen Heimatlosigkeit, weil kein Land sie aufzunehmen bereit war. Es steht für Staatenlosigkeit und die totale Entrechtung von Flüchtlingen, die sie zu ‚Vogelfreien‘ machten. Es steht für die Schaffung rechtlicher Ausnahmeräume, die oftmals einziger Ort der Flüchtlinge waren. Vieles spricht dafür, dass das 21. Jahrhundert ebenso ein Jahrhundert der Flüchtlinge werden wird.
Das irritiert zunächst. Denn angesichts der desaströsen Lage der Flüchtlinge und Staatenlosen im und nach dem Zweiten Weltkrieg sind nach 1945 verschiedene rechtliche Instrumente entwickelt worden, die einen Zustand der Rechtlosigkeit von Flüchtlingen und Staatenlosen verhindern sollten: Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und nicht zuletzt das Asylrecht stehen für die unverbrüchlichen rechtlichen Verpflichtungen, die sich die demokratischen Staaten gegenüber dem Nicht-Staatsbürger selbst auferlegt haben. Mit diesen international abgestimmten Rechtsinstitutionen haben sich nach 1945 nationale Zugehörigkeit und die Gewährung rechtlichen Schutzes zunehmend voneinander gelöst. Man muss damit nicht mehr Staatsbürgerin eines demokratischen Staates sein, um in den Genuss grundlegender Rechte zu gelangen. Auch Nicht-StaatsbürgerInnen kann ein grundlegendes Rechtspaket nicht mehr verweigert werden. Es sollte, so die Hoffnung, die mit den verschiedenen rechtlichen Instrumenten verknüpft worden war, nicht mehr dazu kommen, dass Menschen absolut rechtlos gemacht werden konnten. Denn die Rechtlosigkeit, so hat Hannah Arendt für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und während des Zweiten Weltkrieges konstatiert, war gleichbedeutend mit der Aufforderung zum Mord.
Im Gegensatz zur DDR, deren Verfassung kein individuelles Recht auf Asyl kannte, nahm in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 das Asylrecht eine bedeutende Rolle ein. Als eines der wenigen europäischen Länder nahm es das Asylrecht in den Grundrechtekatalog mit auf. Die Erfahrungen der EmigrantInnen, die nach dem Ende des Nationalsozialismus nach Deutschland zurückgekehrt waren, prägten die Ausgestaltung des Asylrechts entscheidend mit. Es sollte so schlicht und einfach wie möglich gehalten werden, denn jede Einschränkung, so die damalige Überzeugung, wäre der Beginn seiner Abschaffung. Ein wichtiger Grundsatz des Asylrechts war, dass es bereits direkt an der Grenze Geltung hatte. Damit nicht mehr Grenzpolizeien willkürlich über das Schicksal von Flüchtlingen bestimmen konnten, galt – nicht nur in Deutschland –, dass bereits die Bitte um politisches Asyl an der Grenze die Rechtsbeziehung zwischen dem jeweiligen Land und dem Flüchtling herstellte. Die physische Anwesenheit des Flüchtlings auf dem Territorium bzw. an seiner Grenze aktualisierte und aktualisiert bis heute das Recht, um Asyl ersuchen zu können, und mit ihm das Recht auf ein rechtlich gesichertes Verfahren. Die Grenzbeamten dürfen Asylsuchende an der Grenze nicht ohne Grund zurückweisen. Macht also jemand an der Grenze deutlich, dass er in Deutschland Schutz vor Verfolgung sucht, so soll die Überschreitung der Grenze zugelassen und auf dem Territorium in einem rechtlichen Verfahren über Einschluss oder Ausschluss entschieden werden.
Das deutsche Asylrecht ist allerdings 1993 stark eingeschränkt worden. Diese Zäsur kann als Anfang des Endes der Rechtssicherheit für Flüchtlinge gelten. Deutschland führte in das Asylrecht die sogenannte „Sichere Drittstaatenregel“ ein, die die Zurückweisung an der Grenze dann erlaubt, wenn der Flüchtling aus einem Sicheren Drittstaat nach Deutschland kommt. Da Deutschland von solchen Staaten umgeben ist, ist eine legale Einreise kaum noch möglich. Diese Idee ist in die europäische Migrationspolitik eingeflossen. Und so entstehen durch verschiedene europäische Vereinbarungen und Abkommen seit dem Ende der 1990er Jahre rechtlich prekäre Grenzräume – oft mit tödlichen Folgen – für Flüchtlinge.
In diesem thematischen Kontext fand im Wintersemester 2012/2013 an der TU Dresden am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte ein Projektseminar statt. Zentral war hier die Frage, wie sich heute die rechtliche Beziehung zwischen demokratischen Staaten und Flüchtlingen, insbesondere undokumentiert Wandernden, gestaltet. Der heutige Flüchtling, so war unsere Ausgangsthese, markiert nicht mehr eine intakte Rechtsbeziehung zwischen der aufnehmenden oder ablehnenden demokratischen Ordnung, sondern die Grenzen des Rechts. Ausgehend von der rechtssoziologischen Auseinandersetzung des jüngst erschienenen Buches von Sven Opitz über die Grenze des Rechts haben wir uns zunächst verschiedene politische Flüchtlingstheorien näher angesehen und bei ihnen das jeweilige Verhältnis zwischen der potentiell ausschließende Ordnung und dem Flüchtling bestimmt (Hannah Arendt, Giorgio Agamben, Michel Agier und Jacques Rancière). Alle diese Theorien verorten den Flüchtling an der Grenze des Rechts bzw. gänzlich außer ihm. Im zweiten Teil des Seminars haben wir anhand verschiedener aktueller Studien über die undokumentierte Migration die These, dass der Flüchtling als Grenzfigur des Rechts verstanden werden muss, weiter untersucht. Durch welche Entscheidungen und migrationspolitischen Strategien wird der Flüchtling zur Grenzfigur? Was passiert mit ihm an der Grenze des Rechts?
In diesem Kontext sind die vorliegenden, hier veröffentlichten Projektarbeiten entstanden. Sie alle widmen sich dem Thema „Flüchtling und Recht“ auf verschiedene Weise.
Für die bibliographischen Angaben und ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema siehe:
Schulze Wessel, Julia, 2012: Grenzfiguren. Über Staatenlosigkeit, undokumentierte Migration und die Permanenz der Grenze, in: Zeitschrift für Politische Theorie 3, 2, S. 151-166.
Über die Grenzen der Menschenrechte
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. So lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch wer garantiert die Einhaltung dieser universellen Rechte? Wer garantiert sie Menschen auf der Flucht? An welche Grenzen geraten universelle Menschenrechte in einem System nationalstaatlicher Souveränität? Anhand der politischen Philosophien von Hannah Arendt und Giorgio Agamben sollen diese Fragen erörtert und mit Seyla Benhabibs Idee des „kosmopolitischen Föderalismus“ mögliche neue Perspektiven aufgezeigt werden.
Text: Über die Grenzen der Menschenrechte (229KB)
Autor_innen: Lea Herzog und Huyen Vu Thi
Selbstverletzung – Möglichkeit politischen Handelns von Flüchtlingen?
Immer wieder verletzen Flüchtlinge ihren eigenen Körper aus Protest gegen ihre Lebensbedingungen. Sie nähten sich z. B. 2012 in Würzburg ihre Lippen zu, um gegen die Asylbedingungen in Bayern zu protestieren. In dem Vortrag soll die Frage verhandelt werden, ob diese Selbstverletzung ‚nur‘ als Offenlegung der Gewaltverhältnisse oder als politische (Protest-) Praxis gelten kann. Mit dieser Differenzierung soll der politische Ort des Flüchtlings bestimmt werden: Ist er als ohnmächtiges nacktes Leben oder als politische Figur zu beschreiben?
Text: Selbstverletzung – Möglichkeit politischen Handelns von Flüchtlingen? (240 KB)
Autor_innen: Ana Lena Werner und Nils Weigt
Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung: (Wie) Lassen sich anhand des Foucault’schen Begriffs der Biopolitik Prozesse der Exklusion denken?
Die Triade von Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsgewalt wird durch Migration aufgebrochen. Nationalstaaten finden sich immer häufiger mit der Frage nach der Definition ihrer Bevölkerung konfrontiert: Wer darf dazugehören, wer bleibt außen vor? Diese explizite Entscheidung über Ausgrenzungen weist einen biopolitischen Charakter auf. Doch was bedeutet Biopolitik? In der folgenden Arbeit wird mit dem von Foucault geprägten Begriff der Biopolitik und seinem Rassismusbegriff die Frage gestellt, wie sich mit ihm Ausgrenzungsprozesse in modernen Gesellschaften erklären lassen.
Text: Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung: (Wie) Lassen sich anhand des Foucault’schen Begriffs der Biopolitik Prozesse der Exklusion denken? (196 KB)
Autor_innen: Elisabeth Pohl und Julia Barthel
Versicherheitlichung – Über Terrorismus und Einwanderung
Dieser Vortrag stellt die Frage, wie sich der 11. September 2001 auf die Diskussionen um die Einwanderung ausgewirkt hat. Auf welche Weise wird der Diskurs um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit dem Diskurs über Einwanderung verknüpft? Und welche rechtlichen Folgen (z. B. im Patriot Act) hat diese diskursive Verschränkung für die Einwanderer in den USA?
Text: Einwanderung und der Verdacht des Terrorismus (226 KB)
Autor_innen: Victoria Matthies und Pia Uffelmann
Von der Grenzlinie zum Grenzraum
Ohne Grenzen wären Nationalstaaten und damit auch der gesamte politische Alltag, wie wir ihn kennen, nicht möglich. Doch so sehr Grenzen auch manifestiert scheinen, unterliegen sie bestimmten Veränderungsprozessen. Was geschieht jedoch, wenn sich Ort und Struktur einer Grenze verändern? Wie wird durch die Neukonstituierung der Grenze, der Zugang der Flüchtlinge zum Recht verändert? Die Arbeit nimmt sich dieses Spannungsfeldes an und hinterfragt, was geschieht, wenn sich Struktur und Ort der Staatsgrenze soweit verändern, dass sie aktuell viel eher als Grenzraum, denn als Grenzlinie begriffen werden sollten.
Text: Von der Grenzlinie zum Grenzraum - Wie werden Territorialität und Rechtsgeltung im Grenzraum als Raum der Ausnahme aufgelöst? (157 KB)
Autor_innen: Martin Wunderlich und Tobias Wötzel
Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin, oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt.
Flüchtlinge werden zumeist als Opfer definiert, die schwach, hilflos, verlassen, bedroht und deshalb auf den Schutz anderer angewiesen sind. Ihre Situation erscheint ausweglos und ohnmächtig. Die leitende Frage der Arbeit ist, ob Flüchtlinge sich auch als politisches Subjekt verstehen lassen, das sich seiner zugeschriebenen Passivität entzieht. Ziel ist es, den Flüchtling aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und so möglicherweise ein emanzipatorisches Potenzial zu entdecken, welches sonst verborgen bleibt. Für diese Analyse wird u.a. die Frage diskutiert, ob und inwieweit der Protest der Asylbewerberinnen gegen die ihnen auferleget „Residenzpflicht“ als eine politische Subjektivierung der Flüchtlinge verstanden werden kann.
Text: Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin, oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt. (179 KB)
Autor_innen: Alena Reichmayr und Jannick Popelka
Auf der Strecke geblieben: Die Ukraine als Transitland
Marc Speer, Migrationsforscher und Vorstandsmitglied des Vereins „bordermonitoring.eu“
Aufgrund ihrer geographischen Lage spielt die Ukraine als Transitland für undokumentierte Migrant_innen eine herausragende Rolle. Als Gastredner auf der Tagung „Die Grenzen der Menschenrechte“ sprach der Soziologe und Migrationsforscher Mark Speer über die wenig bekannte, hochprekäre Lage von Transmigrant_innen in der Ukraine und eröffnete eine kritische Sicht auf das europäische Migrationsregime in der Region. Ein Interview mit Marc Speer lesen Sie in unserer Jahreszeitung „Einmischungen“ auf Seite 3.
Die Anwesenheit auf dem Territorium beim Asylverfahren – Ein Auslaufmodell?
Seit der griechischen Antike müssen Menschen im Rahmen im Rahmen einer Asyl- und Schutzgewährung eventuell weite Strecken zurücklegen, um einen Ort zu erreichen, an dem diese gewährt und durchgesetzt werden. In der modernen Staatenwelt der Europäischen Union hat der gesamte europäische Rechtsraum diese Schutzwirkung. Trotz dieser Vergrößerung des Schutzraumes starben von 1998 bis 2011 starben 17.738 Menschen bei dem Versuch, die EU zu erreichen. (Facchi 2012: 11). Bedenkt man dabei, dass das Recht auf Schutz und Asyl durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unter Artikel 14 garantiert wird, stellt sich die Frage nach der Umsetzung dieser Garantien, zugespitzt die Versicherung des Zugangs zu diesem Recht, gegenwärtig besonders deutlich.
Autor_innen: Sonja Buder, Deborah Häßner und Rasha Nasr