Nicolas Landru: Historischer Kontext und aktuelle Situation
Mit dem Zerfall des kommunistischen Raums Ende der 1980-er Jahre sind in Europa viele neue Staaten entstanden, führt Nicolas Landru in das Thema ein. Für manche Staaten handelte es sich „nur“ um eine politische Umstellung, um eine Systemwende – so z. B. für Polen, Ungarn oder Rumänien. Aber im Fall von multiethnischen Staaten wie Jugoslawien oder der Sowjetunion folgte eine Zersplitterung der bisherigen Territorien. Neue Staaten sind entstanden, wobei Ethnizität zum Kern dieser Staatsbildungsprozesse wurde, so auch auf dem Balkan: Staatsbildung erfolgte entlang ethnischer Grenzen in einem multiethnischen Umfeld. Dies führte zu dramatischen Konflikten in den 1990-er Jahren, z.B. im Kosovo in Serbien, in Südossetien und Abchasien in Georgien oder in Transnistrien in Moldawien. Für diese Konflikte bzw. den Status dieser Regionen wurden bis heute kaum nachhaltige Lösungen gefunden. Nur teilweise erzielte man durch internationale Vermittlungen prekäre Lösungen wie im Fall von Bosnien und Herzegowina. Die aktuelle Entwicklung dieser Konflikte - die Anerkennung des Kosovo durch die westlichen Staaten, der Krieg im August 2008 in Südossetien zwischen Russland und Georgien und die darauf folgende Anerkennung von Abchasien und Südossetien durch Russland - zeigen, dass die Ethnisierung von Staatsbildung und die Politisierung von Ethnizität mehr denn je ein relevantes Thema in Europa und an den Rändern Europas darstellt.
Holm Sundhaussen
Die (Nicht)Anerkennung der Sezessionsstaaten auf dem Balkan und im Südkaukasus
Die Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärungen des Kosovo, von Südossetien und Abchasien ergeben ein ziemlich skurriles Bild, beginnt Holm Sundhaussen. Die westlichen Staaten, die Kosovo anerkannt haben stellen sich auf die Seite der georgischen Regierung und verurteilen die Unabhängigkeitserklärungen von Südossetien und Abchasien als völkerrechtswidrig. Sie verweisen darauf, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo keinen Präzedenzfall darstelle, was für den Kosovo gilt, gelte daher nicht für Südossetien und Abchasien. Russische Politiker haben hingegen erklärt, dass, im Falle einer Akzeptanz der Unabhängigkeit des Kosovo durch die Weltgemeinschaft, dieselben Maßstäbe auch bei den nach Unabhängigkeit strebenden georgischen Regionen angelegt werden müssten. Dennoch hat Russland die beiden Sezessionsstaaten im Südkaukasus anerkannt, Kosovo aber nicht. „Die Positionen und Argumente des Westens und Russlands haben schlicht die Seiten gewechselt, Russland argumentiert im Falle Südossetiens und Abchasiens ähnlich wie der Westen im Falle Kosovos und umgekehrt. Serbien stellt sich auf die Seite Georgiens und verweigert damit Russland, dem wichtigsten Verbündeten in der Kosovofrage, die Gefolgschaft. Dennoch unterstützt Russland weiter die serbische Position – ihre entgegen gesetzten Positionen in Bezug auf Südossetien und Abchasien stehen einer Kooperation in der Kosovofrage nicht im Wege“, fasst Herr Sunhaussen zusammen. Dies lasse sich nur plausibel vertreten, wenn man beide Situationen – im Südkaukasus und im Westbalkan – für unvergleichbar hält. Für den Westen gelt diese Unvergleichbarkeit, für Russland dagegen nicht, auch wenn Russland gegenüber Kosovo nicht die logische Schlussfolgerung aus seiner Grundsatzposition zieht.
Nun ließen sich zweifelsohne Argumente finden, so Holm Sundhaussen, warum Kosovo auf der einen und Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite nicht vergleichbar sind. Gehe man nahe genug heran, so gleicht kein Fall dem anderen. Aus etwas größerer Distanz betrachtet zeigen sich hingegen sehr viele Ähnlichkeiten. Strittig bleibt also, wie nah man herangehen darf und sollte bzw. auf welcher Ebene und aus welcher Distanz ein Vergleich angestellt wird. Mit Wissenschaft ließe sich diese Frage nicht beantworten, denn es handelt sich um ein politisches Problem, das ausgehandelt werden muss. „Ähnlich wie Serbien könnte auch Georgien in der Vollversammlung der Vereinten Nationen (VN) beantragen, den Internationalen Gerichtshof mit einer Entscheidung über die Legalität der Unabhängigkeitserklärungen von Südossetien und Abchasien zu beauftragen. Und ähnlich wie der Westen im Fall Kosovos muss Russland im Falle der kaukasischen Sezessionsstaaten befürchten eine Abfuhr vom internationalen Gerichtshof zu kassieren. Oder auch nicht – das ist noch völlig offen“.
In der Substanz sind in beiden Fällen also große Ähnlichkeiten zu erkennen. Unterschiedlich aus der Sicht von Holm Sundhaussen stellen sich die 2
Konditionalitäten der Anerkennung dar: Die konditionierte Anerkennung Kosovos ist mit dem Ahtisaari Plan verknüpft; dagegen hat Russland bei der Anerkennung Südossetiens und Abchasiens auf Konditionen verzichtet. (Wenn dem tatsächlich so ist, dann bestünde in diesem Punkt ein deutlicher Unterschied, so Sundhaussen).
Selbstbestimmungsrecht der Völker vs. Territoriale Souveränität des Staates
In allen drei zur Diskussion stehenden Fällen geht es um die Reichweite und das Gewicht des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Eindeutige Regeln zum Selbstbestimmungsrecht der Völker gibt es allerdings nicht. Insbesondere gebe es sie nicht dort, verdeutlicht Herr Sundhaussen, wo das Selbstbestimmungsrecht mit denjenigen, von den VN festgeschriebenen, Rechten bestehender Staaten in Konflikt gerät: mit dem Anspruch der Staaten auf Schutz ihrer Souveränität und ihrer territorialen Integrität. Das Selbstbestimmungsrecht eines Teils der Staatsbevölkerung steht demnach im Konflikt zu den Rechten des bestehenden Staates - die Realisierung des einen Rechts führt zur Verletzung des anderen Rechts. Zu derartigem Gegensatz kommt es insbesondere dann, wenn Staat und Nation ethnisch definiert werden und wenn auf dem Staatsterritorium unterschiedliche ethnische Gruppierungen beheimatet sind.
Das Beispiel Kosovo
Es ist ein Mythos, dass die Beziehung von Serben und Albanern seit Urzeiten von gegenseitigem Hass geprägt sind, der durch keinerlei Fakten überzeugend belegt werden kann, betont Herr Sundhaussen. Im Gegenteil, noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts habe es immer wieder Phasen zumindest partieller albanisch-serbischer Kooperation gegeben. Die Existenz gewisser Unterschiede in der Sprache, im Glaubensbekenntnis oder in den sozialen Organisationsformen hätte für die Betroffenen nicht annähernd dieselbe Bedeutung gehabt, die ihnen heute beigemessen wird. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war außerdem unklar, wer oder was ein Serbe bzw. Albaner ist, so Herr Sundhaussen. Die Situation änderte sich erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Für diesen Wandel waren vor allem zwei Faktoren verantwortlich: Erstens, die einsetzende oder zunehmende Ethnisierung von Nation, Staat, Religion, sozioökonomischen Konflikten und Politik insgesamt sowie zweitens, die Neuordnung der politischen Landkarte des Balkanraums im Gefolge der orientalischen Krise von 1875 bis 1878 bzw. im Rahmen des Berliner Kongresses von 1878.
Die Ethnisierung von „Nation“ und die Theorie der „verlorenen Sprache“
Alle Nationalbewegungen auf dem Balkan, beginnend mit der serbischen und griechischen, machten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein ethnisches Verständnis der Nation zu Eigen. Das heißt die Zugehörigkeit zur Nation wurde zunehmend über die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung definiert, ähnlich wie in Deutschland, erläutert Herr Sundhaussen: „In einer ethnisch stark heterogenen Region wie im Balkan, in weiten Teilen Ost-/ Mitteleuropas oder im 3
Kaukasus ist das Konstrukt der Abstammungsnation ein Konfliktherd erster Ordnung“. Abstammung ist ein objektives und sehr rigides Definitionskriterium. Im Unterschied zu Sprache, Religion oder soziokulturellem Habitus könne man die Abstammung nicht wechseln, ändern oder ablegen (nur verheimlichen oder ignorieren). Insofern sei sie objektiv, allerdings, und da würden die Probleme beginnen, lässt sich die Abstammung von Großgruppen nicht allzu weit in die Vergangenheit zurück verfolgen, schon gar nicht in einer Region die über Jahrhunderte hinweg von starken Migrationsbewegungen geprägt wurde und in der demzufolge fast alle Bewohner einen Migrationshintergrund haben, wie im Falle des Balkans. Eine Rekonstruktion der Abstammung ist oft schwierig, bei Großgruppen ist sie nahezu unmöglich. Wo schriftliche Quellen fehlen ist man auf Indizien und Spekulationen angewiesen. Dafür würden dann Merkmale benutzt, die alles andere als unveränderbar sind, z. B. Sprache, Religion, Gewohnheiten oder Erinnerungen. Das heißt es wird bspw. vom Sprachgebrauch auf die nationale Zugehörigkeit zur Abstammungsnation geschlossen, obwohl der Sprachwechsel im Balkanraum über Jahrhunderte hinweg zum Alltag gehört habe. Dessen seien sich auch die Protagonisten der Nationalbewegungen bewusst gewesen. Doch gerade die Praxis des Sprachwechsels bot ihnen auch einen unschätzbaren Vorteil: Sie ermöglichte es Bevölkerungsgruppen, die eine „falsche“ Sprache sprachen durch ihre angebliche Abstammung der eigenen Nation zu zurechnen. Mit der Theorie der verlorenen Sprache konnte die eigene Nation über die aktuelle Sprachgemeinschaft hinaus ausgedehnt werden. Ähnliches gilt für die Religion bzw. für die verlorene Religion. So wurden z. B. Kosovo-Albaner zu islamisierten und albanisierten Serben und von ihnen wiederum wurden die eigentlichen Albaner unterschieden, vergleicht Sundhaussen.
Diese These, der zufolge ein Teil der Albaner ihrer Abstammung nach Serben seien, die erst in den letzten 100 bis 150 Jahren vom Serbentum abgefallen und zum Islam konvertiert sind, war seit Beginn des 20. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs serbischer Nationalisten weit verbreitet. Die These lasse sich jedoch weder beweisen noch widerlegen.
Die Theorie der verlorenen Sprache und Religion war im 20. Jahrhundert im gesamten Balkanraum äußerst beliebt. So wurden slawischsprachige Makedonier von griechischen Nationalisten als Abstammungsgriechen vereinnahmt. Die russischen Muslime galten serbischen und kroatischen Nationalisten als islamisierte Serben respektive islamisierte Kroaten. Die Bulgaren haben wiederholt die in ihrem Land lebenden Türken und die bulgarischsprachigen Muslime, die so genannten Pomaken, zu ethnischen Bulgaren machen wollen, zuletzt noch Mitte der 1980-er Jahre. Bosniaken haben dann in den 1990-er Jahre den Spieß einfach umgedreht, indem sie katholische und orthodoxe Bosnier – Kroaten und Serben – zu ethnischen Bosniern deklarierten (usw.), ergänzt Sundhaussen.
Mittels der Theorie der verlorenen Sprache oder Religion wurden immer wieder territoriale Ansprüche begründet, die im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht standen.
Im Falle der Kosovo-Albaner bedeutete dies, dass ein großer Teil der Albaner eigentlich Serben sind, die unter Zwang oder freiwillig, aus Opportunismus ihre Sprache und Religion gewechselt haben. Nun nachdem die osmanische Herrschaft beendet ist müssen sie in den Schoß der Nation zurückkehren: „Sofern sie dazu bereit sind lässt sich der Verrat ihrer Vorfahren verzeihen. Sofern sie dazu nicht bereit sind werden sie behandelt, wie man Verräter „üblicherweise“ behandelt. Die „echten“ Albaner im Kosovo sind dagegen lediglich illegal bzw. Eindringlinge, die den Kosovo als Kollaborateure der Osmanen zu Unrecht in Besitz genommen haben und jetzt wieder verschwinden müssen“, so Herr Sundhaussen. Essentialistisch verstandene Kollektive, wie die Abstammungsnation, sehen sich im Besitz von Rechten, die als unveräußerlich gelten. Diese Rechte konnten als Folge von Fremdherrschaft außer Kraft gesetzt werden, bleiben aber als Anspruch erhalten, weil Recht nicht durch Unrecht aufgehoben werden kann. Diese Betrachtungsweise hat schwerwiegende Konsequenzen für die Territorialisierung der Nation bzw. Nationalisierung von Territorien. Ein Gebiet das viele Jahrhunderte zuvor von einem Kollektiv in Besitz genommen wurde, sei es durch militärische Eroberung oder durch friedliche Landnahme bleibt das unveräußerliche Eigentum dieses Kollektivs, auch wenn in der Zwischenzeit andere Kollektive das Gebiet erobert oder friedlich besiedelt haben oder auch wenn das Kollektiv der ursprünglichen Eigentümer nicht mit dem modernen Kollektiv der vermeintlichen Erben gleichgesetzt werden kann.
Das ethnische Nationsverständnis hat sich in großen Teilen Europas und außerhalb Europas durchgesetzt. Solange es Mehrheiten gebe die sich ethnisch definieren, dieses Prinzip mitunter in ihre Verfassungen schreiben, werden ethnische Minderheiten, die per Definition vom Staatsvolk ausgeschlossen sind, nach einem eigenen Staat streben, wann und wo immer das opportun erscheint – das gelte für Kosovoalbaner ebenso wie für Osseten, Abchasier und viele andere, sagt Herr Sundhaussen. Es gebe auch kein historisch überzeugendes Argument Staatsbildung auf ethnischer Grundlage zu verweigern – man sollte allerdings versuchen diesen Prozess wo immer möglich zu begleiten und zu steuern.
Dass die Kosovo-Frage im Dayton-Abkommen von 1995 mit keinem Wort erwähnt wurde und, dass die internationale Gemeinschaft erst 1998 begriff wie brisant die Lage im Kosovo wurde ist heute nur noch schwer nachvollziehbar, findet Herr Sundhaussen: „Was im Fall Kosovos falsch gemacht wurde, muss man im Fall Südossetiens und Abchasiens nicht wiederholen“.
Noch dominiere das Staatsverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, doch die Rahmenbedingungen hätten sich verändert. Vorsichtig optimistisch schließt Holm Sundhaussen mit dem Gedanken, dass eine wachsende Mehrheit der serbischen Bevölkerung trotz des Kosovo eine europäische Integration ihres Landes befürwortet: „Eines Tages werden alle wieder unter einem Dach leben, 5
auch wenn dies kein jugoslawisches oder serbisches sondern ein europäisches Dach sein wird. Spätestens dann wird sich auch die Qualität der heutigen Grenzen ändern“.
Joscha Schmierer
Ethnos, Staatsbildung und die internationale Konstellation
Joscha Schmierer richtet seinen Blick zum einen auf die Bedeutung der internationalen Konstellation für ein besseres Verständnis von (jüngeren und gegenwärtigen) Staatsbildungsprozessen. Zum anderen bezieht er sich dabei, unter Berücksichtigung des Aspekts der Ethnisierung, auf die Region Südkaukasus bzw. auf Georgien.
Edouard Chevardnaze habe 1993 in einem Interview gesagt, dass die großen Konfrontationen – die globale Polarität Ost-West aufgelöst ist, sich jedoch sofort neue Polaritäten herausgebildet hätten – andere Probleme, die eben so tragisch und bitter, doch weniger global seien. Die Welt müsse modern werden, dürfe ihren Problemen nicht länger nachlaufen, sondern müsse rechtzeitig verstehen, was heute und jetzt mit ihr geschieht. Auf die Frage seiner Gefühle bei der Rückkehr in die Heimat [nach Georgien] habe er geantwortet: „Es war als wäre ich in einen Kessel mit kochendem Teer gestürzt.“
In diesen Äußerungen sieht Joscha Schmierer den Zusammenhang zwischen Beendigung der Blockkonfrontation - die Auflösung des letzten großen europäischen Imperiums - und den Problemen auf dem Balkan sowie im Südkaukasus widergespiegelt.
Dieser Zusammenhang von Auflösung der Blockkonfrontation und den Entwicklungen auf dem Balkan und im Südkaukasus verweist auf die internationale Konstellation in der diese Konflikte stattfinden – Joscha Schmierer versteht sie als Signum unserer Epoche und vor diesem Hintergrund gelte es mit den gegenwärtigen Herausforderungen auf dem Balkan und im Südkaukasus umzugehen.
Die Herstellung einer Welt ist vor allem durch Imperien vorangetrieben worden – durch europäische Imperien einschließlich Russland. Das 20. Jahrhundert beschreibt Joscha Schmierer als Jahrhundert der Entimperialisierung und Verstaatlichung und verweist auf die Auflösung von Imperien nach dem 1. Weltkrieg als das Osmanisches Reich und das Habsburger Reich ihre Niederlage erlitten. Mit dem Ende des 2. Weltkriegs – der Niederlage Japans, Deutschlands und Italiens – endeten auch die Versuche der Herstellung großer Imperien. Dieses Scheitern könne als zweite Welle der Entimperialisierung betrachtet werden und Joscha Schmierer benennt hier den fließenden Übergang in die Epoche der Entkolonialisierung und damit die Beendigung der westlichen Überseeimperien.
Im Zuge der Entimperialisierung und Entkolonialisierung stand die Weltgemeinschaft vor der Herausforderung, wie die vormaligen Kolonien als unabhängige Entitäten Teil des internationalen Systems werden konnten. Die einzige Form, die zur Verfügung gestanden habe war die als Staat in die Weltgemeinschaft einzutreten, jedoch unter gänzlich anderen Bedingungen als die europäischen Staaten einst selbst Teil dieser Staatenwelt wurden bzw. diese formierten. Den ehemaligen Kolonien wurde vielmehr unabhängig von internen Staatsbildungsprozessen bzw. von empirischer Staatlichkeit der Zugang zum internationalen System ermöglicht. Im Rahmen der UN erfolgte also eine Anerkennung als Staat in der internationalen Gemeinschaft, problematisch war jedoch, so Joscha Schmierer, dass die innere Staatsbildung dabei äußert schwach sein und bleiben konnte.
Die Auseinandersetzung um die Auflösung Jugoslawiens in Folge der Auflösung der Sowjetunion möchte Joscha Schmierer als nicht spezifisch in Bezug auf Staatsbildungsprozesse in postimperialen Räumen verstanden wissen. Spezifisch seien dabei lediglich der europäische Kontext und die Auflösung des letzten europäischen Imperiums. Ansonsten hätten vergleichbare Auflösungsprozesse in postimperialen Räumen stattgefunden.
Joscha Schmierer fragt nach dem Zwang zur Staatsbildung und nach deren ethnischer Triebkraft und benennt eine doppelte Grundform unseres Zeitalters - der Globalisierung: Zum einen könne man nur als Staat an der politischen Welt teilhaben und zum anderen wäre man ohne Staat völlig den globalen Entwicklungen und der Weltwirtschaft ausgeliefert.
Es sei also nicht nur eine ethnische Triebkraft vorhanden einen Staat zu schaffen, sondern umgekehrt brauche man einen Staat um sich an der internationalen Entwicklung zu beteiligen. Dabei fungiere der Ethnos als eine wichtige Triebkraft, doch handelt es sich hier ebenso wie bei der Nation um einen politisch gemachten und gesetzten Begriff.
Der Kaukasus
Für den Wandel und Wechsel von Eliten im Übergang von einem imperialen zu einem postimperialen Kontext nennt Joscha Schmierer Georgien als wichtiges Beispiel. Mit diesem Wandel der imperialen Elite und der imperialen Bürokratie hänge die Dynamik der Auseinadersetzungen in Georgien wie auch im ehemaligen Jugoslawien eng zusammen.
In Georgien ist die Besonderheit die, dass die Unabhängigkeitsbewegung tatsächlich von vornherein unter Führung von nationalen und nationalistischen Kräften stand. Dies war auch der Grund dafür, warum sich der Konflikt schnell in einer bestimmten Weise verschärft habe. Autonomierechte, die Südossetien und Abchasien innerhalb der Sowjetunion zukamen, wurden durch Georgiens Regierung beschnitten. In der Souveränität des georgischen Staates lag die Legitimation der nationalistischen Bewegungen. Der Effekt war und ist, dass sich die abtrünnigen Regionen auf ihre sowjetische Tradition zurück beziehen.
Die Herstellung friedlicher Verhältnisse in postimperialen Räumen könne nur gelingen, wenn, jenseits der Fokussierung auf die einzelnen Staaten, über-national und über-staatlich gesicherte Unionen entstehen. In Bezug auf den Balkan stelle die EU bereits einen stabilisierenden Faktor dar. Hinsichtlich Georgiens wird es jedoch ohne eine weitreichende Zusammenarbeit von EU und Russland keine nachhaltige Lösung, keine überstaatliche Stabilität, geben können, gibt Joscha Schmierer zu bedenken.
Autorin
Autorin dieser Dokumentation ist Lisa Schlegel. Sie hat Afrikanistik an der Universität Leipzig und der Politikwissenschaft an der Universität Leipzig und Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg studiert und arbeitet als Freie Mitarbeiterin für Weiterdenken und betreut dabei die Veranstaltungsreihe zu europapolitischen Fragen. Seit Dezember 2008 ist Lisa Schlegel wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Afrikanistik, Universität Leipzig.