Wie kann Bürgerbeteiligung inklusiv sein? Antworten am Beispiel des Verfahrens Planungszelle / Bürgergutachten

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1. Soziale Ungleichheit in der politischen Beteiligung und die Frage der Inklusion
Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist seit Jahren hoch. Aktuell belegen Schmid und Stein (2013) die gewachsene Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen für den Zeitraum 1991 bis 2010. Der im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufgezeigte Trend, wonach seit 2005 bzw. 2007 die Einkommensungleichheit leicht abnahm (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, S. X), wurde bereits wieder gestoppt (Grabka und Goebel 2013). Konstant liegt die Armutsrisikoquote, die den direkt von Armut betroffenen und armutsgefährdeten Anteil der Bevölkerung erfasst, seit 2007 zwischen 14 % und 16 % (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, S. IX), aktuell ist sie laut Datenreport 2013 wieder gestiegen: von 15,2 % in 2007 auf 16,1 % in 2011. Als arm oder armutsgefährdet wird dabei eingestuft, wer weniger als 980 Euro monatlich zur Verfügung hat (Statistisches Bundesamt und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2013). Trotz hoher Beschäftigtenzahl sind mehr Menschen dauerhaft arm oder von Armut bedroht, weil viele Beschäftigte atypisch, also befristet, geringfügig, in Teilzeit und in Leiharbeit arbeiten.
Alleinerziehende Familien und Familien mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich häufig von Armutsrisiken betroffen. Fast 50 % der Alleinerziehenden bezogen im Jahr 2010 Leistungen nach SGB II („Hartz IV“). Von den alleinerziehenden Frauen mit Kindern im Alter unter sechs Jahren hat rund die Hälfte keinen Berufsabschluss und fast ein Fünftel keinen Schulabschluss (Schneider et al. 2012, S. 5f.; Grabka und Frick 2010, S. 2). „In einem bildungsfernen Elternhaus, einer finanziellen oder einer sozialen Notlage wachsen in Deutschland, trotz erkennbarer Verbesserungen in den letzten Jahren, noch immer 29 % aller Kinder und Jugendlichen auf.“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 8). Ein fehlender oder niedriger Bildungsabschluss der Eltern verringert deutlich die Chancen ihres Kindes, nach der Grundschule ein Gymnasium zu besuchen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, S. 96). Neben dieser großen sozialen Ungleichheit findet sich damit auch eine ausgeprägte soziale Undurchlässigkeit, denn Kinder aus einem einkommensschwachen Elternhaus haben nur geringe Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen. In einer Studie für die Heinrich-Böll-Stiftung kommt Pollack (2010) zu einem ähnlichen Ergebnis wie die bekannten PISA-Studien und stellt in seinem europäischen Vergleich fest, „dass der Einfluss des Elternhauses auf eigene Mobilitätschancen in kaum einem anderen Land so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland“ (ebd., S. 38).
Diesen rund 15 % armen und armutsgefährdeten Haushalten und einer Mittelschicht mit höchst unterschiedlichen Milieus stehen 10 % der vermögensstärksten Haushalte gegenüber, die über die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich vereinen. Ihr Vermögensanteil „ist dabei im Zeitverlauf immer weiter angestiegen“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013, S. XII, Zahlen für 2008).
Soziale Ungleichheit und Undurchlässigkeit finden ihr Abbild auch in der Ungleichheit bei der politischen Beteiligung. „Bildungsferne Schichten“ und damit „jene Bevölkerungsgruppen haben sich vom Urnengang verabschiedet, die eigentlich die meisten Forderungen an Mandatsträger zu stellen hätten: Bürger mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Einkommen“ (Geißel 2012, S. 32). Aber nicht nur im Bereich der gesetzlich geregelten oder institutionalisierten politischen Beteiligung (Wahlen, Bürger- und Volksbegehren, Bürger- und Volksentscheide), sondern auch bei den nicht gesetzlich geregelten, sog. informellen, deliberativen, also beratenden Beteiligungsformen findet sich dieser Trend. Dabei haben Schulabschluss bzw. Bildungsniveau und Einkommen einen höheren Einfluss auf die Partizipationswahrscheinlichkeit als ethnische Zugehörigkeit oder Migrationshintergrund. Geißel stellt fest: „Bildungsferne und einkommensschwache Migrantinnen und Migranten partizipieren kaum, Migrantinnen und Migranten mit hohem Bildungsniveau beteiligen sich immer häufiger.“ Und sie fährt fort: „Die politische Abstinenz bildungsferner und einkommensschwacher Personen sowie die wachsenden Macht- sowie Einflussasymmetrien haben fatale Folgen und könnten auf lange Sicht sogar Demokratie, Gesellschaft und Ökonomie gefährden.“ (Geißel 2012, S. 34).
Vor diesem Hintergrund der gewachsenen Ausgrenzung, Abkopplung und politischen Abstinenz ganzer Bevölkerungsgruppen und einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich stellt sich immer drängender die Frage, welche Wege zu mehr Teilhabe und Inklusion und einer „neuen sozialen Kohäsion“ (Hallenberg und Rohland 2013, S. 231), einem wieder wachsenden Zusammenhalt führen. Diese Frage wird auch im Bereich der Bürger_innenbeteiligung intensiv diskutiert, so widmete z. B. das Netzwerk Bürgerbeteiligung 2013 eine Ausgabe seines Newsletters dem Thema „Inklusion und Bürgerbeteiligung“.
Wie kann Bürgerbeteiligung inklusiv sein? Auf diese Frage wollen wir hier am Beispiel des Verfahrens Planungszelle / Bürgergutachten  Antworten geben. Dabei geht es um die Chancen, aber auch um die Grenzen von Inklusion im Verfahren Planungszelle / Bürgergutachten, und um Empfehlungen, die sich daraus für den weiteren Einsatz des Verfahrens ableiten lassen.

2. Chancen der Inklusion im Verfahren Planungszelle / Bürgergutachten
Das Beteiligungsverfahren Planungszelle / Bürgergutachten wurde Anfang der 1970er Jahre von Peter C. Dienel an der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Planungsverfahren der Bergischen Universität Wuppertal entwickelt und seither vielfach eingesetzt (Dienel 2002).
Die ursprüngliche Idee, die hinter der Entwicklung der Planungszelle stand, war der Wunsch nach einer stärkeren Mobilisierung der Kompetenzen von Bürger_innen für politische Willensbildungsprozesse. Hinzu kamen der ausgeprägte selektive Charakter anderer Partizipationsverfahren und deren übermäßig starke Beeinflussung durch Interessengruppen. Bei den meisten von ihm in den 1970er Jahren betrachteten Beteiligungsverfahren stellte Dienel als eines von mehreren generellen Defiziten fest: „Kaum eines von ihnen erfasst alle sozialen Schichten in entsprechenden Anteilen“ (Dienel 2002, S. 62).
Das Verfahren Planungszelle / Bürgergutachten, das er ausgehend von seiner Defizitanalyse entwickelte, sollte daher nicht nur zu einer rationaleren Bewertung von Sachverhalten, einer stärkeren Orientierung an zukunftsrelevanten Fragen, einer größeren Legitimierung staatlichen Handelns und mehr Interaktion mit den Bürger_innen und damit zu mehr Beteiligung beitragen. Es sollte auch einen Sozialisierungseffekt, d. h. einen Lern- und Befähigungseffekt, haben, und zu einer „Umverteilung sozialer Macht … zwischen den sozialen Milieus und zwischen den organisierten und nichtorganisierten Gruppen“ beitragen (Dienel 2002, S. 206). Vor diesem Hintergrund konstruierte er die Planungszelle als deliberativ-konsultatives Verfahren mit folgenden charakteristischen Merkmalen:

  • 25 per Zufall aus dem Einwohnermelderegister ausgewählte Bürger_innen entwickeln für vier Tage Empfehlungen zu einer konkreten Problemstellung.
  • Sie werden dafür von alltäglichen Verpflichtungen freigestellt und erhalten eine Aufwandsentschädigung bzw. eine Erstattung für den Verdienstausfall.
  • Sie werden durch eine neutrale Prozessmoderation begleitet.
  • Ihre Beteiligung im Verfahren erfolgt nach einer Struktur aus jeweils vier anderthalbstündigen Arbeitseinheiten pro Tag, zwischen denen jeweils halbstündige (für das Mittagessen einstündige) Pausen liegen. Das Hauptthema der Planungszelle wird in zeitlich zu bewältigende Teilthemen aufgeteilt. In jeder Arbeitseinheit wird eines dieser Teilthemen bearbeitet. Jede Arbeitseinheit folgt wiederum einer Struktur aus Information, Kleingruppendiskussion, Präsentation der Kleingruppenergebnisse im Plenum sowie individueller Gewichtung der Empfehlungen.
  • Sie erhalten Information in Form von Kurzreferaten durch Expert_innen, aber auch durch Vertreter_innen betroffener Interessengruppen. Die Information ist möglichst allgemeinverständlich und in vorgegebener Zeit zu vermitteln. Dabei bestehen jeweils Rückfragemöglichkeiten für die Bürger_innen.
  • Sie entwickeln nach der Informationsvermittlung in wechselnd zusammengesetzten Kleingruppen, die nicht moderiert werden. ihre Empfehlungen. Die wechselnde Zusammensetzung soll eine möglichst faire Diskussionssituation ermöglichen, in der die Dominanz Einzelner vermindert wird, und sie soll dazu beitragen, dass die Teilnehmenden die Meinungen möglichst vieler Anderer kennenlernen.Sie präsentieren die Empfehlungen ihrer Kleingruppen im Plenum.
  • Sie können nach der Präsentation jeweils noch individuell gewichten, welche Empfehlungen ihnen am wichtigsten sind.
  • Ihre Empfehlungen (bzw. die Empfehlungen aus mehreren Planungszellen) werden schließlich als Bürgergutachten dokumentiert und veröffentlicht.

Diese Verfahrensmerkmale sollen nicht nur mehr Beteiligung, sondern auch eine Inklusion verschiedener sozialer Schichten und eine inklusive Art und Weise der Beteiligung ermöglichen. Mit Strunk (2013) grenzen wir dabei „Inklusion“ von „Integration“ ab. Während Integration eine nachträgliche Eingliederung von Individuen in einen sozialen Kontext beschreibt, zielt Inklusion darauf ab, die Gesellschaft von Beginn an so zu organisieren, dass sämtliche Mitglieder gleichberechtigt an allen Prozessen und Strukturen partizipieren und diese mit aufbauen können. Hierbei dürfen weder individuelle Fähigkeiten, noch die ethnische und soziale Herkunft oder das Geschlecht und das Alter eine Rolle spielen. Idealtypisch wird Inklusion „durch das Zusammensein und das gegenseitige Akzeptieren aller Menschen in einem konkreten Lebensraum“ (Strunk 2013) verwirklicht. Im Kern gehört dazu die Schaffung eines Raumes durch öffentliche oder private Instanzen, der Möglichkeiten bietet, Inklusion zu praktizieren (ebd. 2013). Die Planungszelle lässt sich als ein solcher Raum verstehen. 
Das Zufallsverfahren soll eine für die Gesamtbevölkerung möglichst repräsentative Zusammensetzung der Teilnehmenden gewährleisten. Da eine Teilnahme als Bildungsurlaub gemäß Bildungsurlaubsgesetz beantragt werden kann, können die Teilnehmenden von ihren beruflichen Verpflichtungen entbunden werden. Außerdem können Eltern von Kleinkindern und Personen, die einen Angehörigen pflegen, durch eine Kinderbetreuung bzw. Vertretung für die Dauer der Planungszelle entlastet werden, sodass auch schwer abkömmliche Personengruppen teilnehmen können. Diese Vorgehensweise soll inklusiv möglichst vielen Menschen die Teilhabe ermöglichen. Auch die weiteren aufgeführten Verfahrensmerkmale sollen inklusionsfördernd wirken: Aufwandsentschädigung als Anerkennung der Mitwirkung, transparenter Ablauf, allgemeinverständlich vermittelte Information, alltagssprachlicher Austausch und Meinungsbildung in wechselnden Kleingruppen mit möglichst geringer Dominanz einzelner Personen, Präsentation der Kleingruppenergebnisse durch die Teilnehmenden selbst und die abschließende individuelle Gewichtung der Ergebnisse, die es erlaubt, auch unabhängig von den Empfehlungen der Kleingruppe ein Votum abzugeben. Das Verfahren eröffnet mit diesen Merkmalen den Teilnehmenden die Chance, Selbstwirksamkeit zu erleben, und „Selbstwirksamkeit des eigenen Engagements in einem Beteiligungsprozess muss erlebbar sein, damit Inklusion gelingt“ (Gohde-Ahrens 2013).

3. Grenzen der Inklusion im Verfahren Planungszelle / Bürgergutachten
Planungszellen / Bürgergutachten wurden in den letzten Jahrzehnten lokal, auf kommunaler Ebene, auf Landesebene und auch zu europäischen Themen vielfach durchgeführt. Erfahrungen verschiedener Planungszellen / Bürgergutachten, die durch das nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung durchgeführt wurden, der Austausch im „Qualitätsnetzwerk Bürgergutachten“, einem Netzwerk von Instituten, die in Deutschland Planungszellen / Bürgergutachten durchführen, sowie Verfahrensevaluationen (z.B. Sarcinelli 2011) zeigen, dass die beschriebenen Verfahrensmerkmale Inklusion fördern können.
Es zeigen sich aber auch Grenzen der Inklusion im Verfahren. Eine erste Grenze besteht durch die Freiwilligkeit des Verfahrens. Da es den per Zufallsziehung ausgewählten Personen freisteht, teilzunehmen, hängt die Zusagequote von Faktoren wie der Wichtigkeit ab, die sie mit dem Thema verbinden, der Überzeugung, Einfluss nehmen und dem Vertrauen, sich im Rahmen des Verfahrens äußern zu können. Sozial benachteiligte, bildungsferne Gruppen entscheiden sich hier tendenziell eher gegen die Teilnahme, wenn sie für sich wenige Einfluss- und Artikulationsmöglichkeiten sehen.
Klages (2007) stellt fest, dass sich das Verfahren Planungszelle zwar „durch eine direkte und zwingende Repräsentationsregel für die Mitgliederrekrutierung“ von anderen Verfahren „abhebt“, kritisiert jedoch, dass allein „Willige“, also diejenigen Bürger_innen in der Zufallsauswahl, die auch den Willen dazu haben, sich beteiligen, so dass von einer „wirklichen Repräsentation nicht die Rede sein“ könne (Klages 2007, S. 45).
Eine weitere Grenze, welche die Teilnahmebereitschaft von sozial benachteiligten, bildungsfernen Gruppen, und insbesondere von Migrant_innen betrifft, die nicht oder noch nicht Deutsch sprechen, besteht in erforderlichen Sprachkenntnissen. In Wohnvierteln mit einer heterogenen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung kann das Verfahren auch bei einem Angebot des Dolmetschens an seine Grenzen stoßen, wenn in mehrere Sprachen übersetzt werden muss, was zeitaufwändig und kostenintensiv ist.
Beaugrand (2011) weist in ihrer Untersuchung von Planungszellen / Bürgergutachten anhand der von ihr untersuchten Fallbeispiele darauf hin, dass Grenzen der Inklusion bereits im Prozess der Auswahl von Themen, zu denen das Verfahren durchgeführt wird, bestehen. Minoritäten haben generell weniger Einfluss darauf, welche Themen aufgegriffen werden, insbesondere wenn sie nicht in Interessengruppen organisiert sind.
Ebenfalls begrenzend können nach Beaugrand (ebd.) Normen und Regeln des Verfahrensablaufs wirken. Dieser Verfahrensablauf geht von einem autonomen Subjekt aus, das sich seiner_ihrer demokratischen Teilhabemöglichkeiten bewusst ist und seine_ihre Partizipationschancen wahrnehmen will. Er setzt Vertrautheit und Identifizierung mit den in ihm enthaltenen kulturspezifischen Normen, Regeln und Prozeduren voraus, die jedoch bei Minoritäten ein Gefühl der Nichtanerkennung und Entfremdung hervorrufen könnten, insbesondere dann, wenn sie sich damit nicht identifizieren können.
Wenn potentielle Unsicherheiten, Gefühle geringen Selbstwertgefühls oder Entfremdung nicht von den Auftraggeber_innen und Prozessbegleiter_innen des Verfahrens als Einflussfaktoren berücksichtigt werden, können sie die Mitsprache und Mitentscheidung von Minoritäten im Verfahren vermindern, selbst wenn diese in der Planungszelle vertreten sind. Denn die Anwesenheit im Verfahren bedeutet nicht zwangsläufig auch die Wahrnehmung von Teilhabechancen, was sich z.B. bei der Wahrnehmung der Chance zeigen kann, Fragen an die Fachleute zu formulieren oder Redebeiträge in den Kleingruppendiskussionen abzugeben. Letztere finden ohne Moderation statt, weshalb trotz der wechselnden Zusammensetzung nicht ausgeschlossen werden kann, dass es im Diskurs zu sozialen Machtasymmetrien kommt, in der Teilnehmende aus Minoritäten sich zurückhalten und dadurch ihre Wertvorstellungen, Meinungen und Empfehlungen nicht ausreichend im Bürgergutachten vertreten sind (Beaugrand 2011, S. 25ff.).
Die genannten Grenzen lassen sich jedoch durch bewusste Reflexion bei der Vorbereitung und Organisation des Verfahrens und durch gezielte Maßnahmen aufheben, die es erlauben, die im Verfahrenen gebotenen Inklusionschancen zu realisieren. Dazu werden abschließend einige Empfehlungen gegeben.

4. Empfehlungen für die Sicherung der Inklusion im Beteiligungsverfahren Planungszelle / Bürgergutachten
Um die durch seine Verfahrensmerkmale gegebenen Inklusionschancen auszuschöpfen, sind bei Bürgerbeteiligung mit Planungszellen / Bürgergutachten folgende Empfehlungen, die sich aus jahrelanger Praxis ableiten, hilfreich:

  • Das Thema der Planungszelle sollte mit starkem Bezug zu aktuellen, lokalen Fragen und Problemen und hoher Bedeutung für alle lokalen Bevölkerungsgruppen gewählt werden.
  • Die Einladung an die Zufallsauswahl sollte sprachlich so gestaltet sein, dass auch sozial benachteiligte und bildungsferne Gruppen angesprochen und motiviert werden.
  • Die Teilnahmebereitschaft von Minoritäten lässt sich durch den Kontakt mit Schlüsselpersonen, die für sie eine wichtige Bedeutung haben, erhöhen, wenn diese das Verfahren unterstützen. Auf diese Weise gelang es z. B. bei Planungszellen zu Stadtquartieren in Berlin die Zusagebereitschaft von Migrant_innen zu erhöhen (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bezirksamt Tiergarten von Berlin 2000; Bezirksamt Wedding von Berlin 2000).
  • Bei der Planung des Verfahrens ist ausreichend Zeit für aufsuchende Motivation per Telefonat oder Besuch zu berücksichtigen, um Fragen potenziell teilnahmebereiter Personen zu beantworten, ihre Befürchtungen aufzunehmen und sie soweit wie möglich zu unterstützen, damit sie am Verfahren teilnehmen können.
  • Mit Einverständnis der per Zufall ausgewählten Personen kann auch der Kontakt mit dem Arbeitgeber gesucht werden, um die Freistellung der Mitarbeiterin bzw. des Mitarbeiters zu erleichtern.
  • Die Zusagequote von Minoritäten mit Migrationshintergrund lässt sich auch erhöhen, wenn das Angebot des Dolmetschens besteht.
  • Insgesamt ist auf einen barrierefreien Zugang zu den Räumlichkeiten am Veranstaltungsort der Planungszelle zu achten. Es ist bereits vorgekommen, dass ein Teilnehmer aufgrund einer Sportverletzung, die zu einer Gehbehinderung führte, am ersten Tag der Planungszelle seine Teilnahme abbrechen musste, weil keine Zugangserleichterungen vorhanden waren (nexus Institut 2009a, S. 8). Der Veranstaltungsort sollte also unbedingt baulich barrierefrei sein, auch an Informationsvermittlung in leichter Sprache oder eine Schrift- bzw. Gebärdensprachdolmetschung ist hier in Bezug auf inklusive Teilhabe zu denken.
  • Die Aufwandsentschädigung bzw. der Verdienstauswahl sollte ausreichend hoch kalkuliert werden. Das von manchen Seiten hervorgebrachte Argument, es handele sich bei der Teilnahme an einer Planungszelle um ehrenamtliches Bürgerengagement, das man, wie auch sonst üblich, nicht extra honorieren solle, überzeugt nicht. Vielmehr ist eine ausreichend hohe Aufwandsentschädigung inklusionsfördernd, denn sie stellt den Zeitaufwand, den die Teilnehmenden haben, auf eine „Augenhöhe“ mit Personen, die professionell Politikempfehlungen erarbeiten. Insofern kann sie als Teil einer „Kultur der Anerkennung“ angesehen werden (vgl. auch Kabis-Stabach und Hermanns 2013).
  • Dienel schlägt vor, ergänzend weitere offene Partizipationsmöglichkeiten anzubieten, die gleichzeitig und integrativ wirkend durchgeführt werden. Bereits in der Vorbereitungsphase könnten zudem die in den jeweiligen Themenbereichen engagierten Bürger_innengruppen und Interessen einbezogen werden und ein heterogen zusammengestellter Bürger_innenbeirat die angemessene Durchführung gewährleisten (Bürgergesellschaft 2013).
  • „Interessante Anwendungs- wie auch Weiterentwicklungsmöglichkeiten“ des Verfahrens sieht Dienel auch in „Änderungen des Teilnehmer-Einzugsbereiches“, d.h. in der Bildung „projekt- oder organisationsspezifischer“ Gruppen oder einer „altersspezifischen Zusammensetzung“ (Dienel, 2002, S. 227). Es wurden schon Planungszellen mit spezifischer Gruppenzusammensetzung durchgeführt, z.B. zur altersgerechten Gestaltung des öffentlichen Raumes mit Senior_innen (in Artern und Heringsdorf, nexus Institut 2009a, 2009b). Denkbar sind daher auch weitere themenspezifische Gruppenzusammensetzungen für Planungszellen, da sie Vorbehalte gegenüber einer Teilnahme möglicherweise reduzieren könnten.
  • Es sollte noch genauer erforscht werden, wie verschiedene kulturelle und ethnische und insbesondere sozial benachteiligte und bildungsferne Gruppen das Verfahren heute erleben und bewerten und welche Anpassungen und Ergänzungen sie vorschlagen würden. Hier erscheinen vor allem auch qualitative Forschungsmethoden wie teilnehmende Beobachtung und Interview als geeignet, weil sie eine Möglichkeit bieten, die Erfahrungen und Bewertungen der Teilnehmenden in einer Form aufzunehmen, die weitestgehend der alltagssprachlichen Kommunikation entspricht.
  • Die derzeitige Tendenz, Planungszellen eher in einer Zwei-Tages-Variante durchzuführen, weil sich Auftraggeber_innen und Durchführungsträger_innen dadurch eine höhere Zusagebereitschaft erhoffen, oder weil Kosten gespart werden sollen, ist kritisch zu hinterfragen. Drei oder vier Tage bieten den Teilnehmenden mehr Zeit, Informationen aufzunehmen und sich in das zu beratende Thema einzuarbeiten. Die bisherigen Evaluationen des Verfahrens, die jeweils auch in Bürgergutachten veröffentlicht werden, zeigen eine hohe Zufriedenheit der Teilnehmenden. Diese Zufriedenheit ist immer auch eine Zufriedenheit der Teilnehmenden mit sich selbst, weil das Verfahren ihnen den Raum bietet, gemeinsam ein Ergebnis zu erarbeiten und damit ihren Empfehlungen eine Stimme zu geben. Um diese Wirkung, die wir heute als Empowerment und Selbstwirksamkeit beschreiben, zu entfalten, sollte die vorgesehene Zeit möglichst eingeräumt werden.

Akzeptanz und Erfolg von Planungszellen / Bürgergutachten einschließlich ihrer Leistungsfähigkeit für das Anliegen der Inklusion, hängen nicht nur von den inhärenten Qualitäten des Verfahrens ab, sondern auch vom Umfeld. Für den Prozess der Meinungsbildung dürfte den meisten Menschen selbstverständlich sein, dass von Expert_innen, Medien oder Politik Kommentare und Einschätzungen abgegeben und das aus der je eigenen Perspektive Wünschenswerte formuliert wird. Sieht man einmal von der Meinungsforschung ab, die auf Basis quantitativer Methoden kaum komplexe Sachverhalte thematisieren kann, wird es in der Öffentlichkeit (noch) selten als Mangel begriffen, wenn die Bewertungen und Empfehlungen der Bürger_innen zu einem interessierenden Sachverhalt unbekannt bleiben. Planungszellen / Bürgergutachten werden noch zu selten propagiert. Wie eingangs dargestellt wurde, gibt es in Deutschland eine weiter wachsende soziale Ungleichheit. Planungszellen / Bürgergutachten bieten ein großes Potential für eine Verringerung der politischen Folgen.

Literatur
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Dienel, P.C. (2002). Die Planungszelle. Der Bürger als Chance. 5. Aufl., mit Statusreport. Westdeutscher Verlag.
Geißel, B. (2012): Politische (Un-)Gleichheit und die Versprechen der Demokratie. In: APuZ 38-39/2012, S. 32-37.
Grabka, M.M., Frick, J. (2010). Weiterhin hohes Armutsrisiko in Deutschland: Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen. In DIW Wochenbericht Nr. 7/2010 vom 17.02.2010. http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.347307.de/10-7-1.pdf. Zugegriffen: 22.11.2013.
Grabka, M.M., Goebel, J. (2013). Rückgang der Einkommensungleichheit stockt. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. DIW Wochenbericht Nr. 46/2013 vom 13. November 2013. http://www.diw.de/sixcms/detail.php/431412 (Zugriff 22.11.2013)
Gohde-Ahrens, R. (2013). Partizipation und soziale Inklusion aus der Quartierssicht – ein Blick nach Hamburg. In: eNewsletter Bürgerbeteiligung Nr. 1/2013. http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/fileadmin/Inhalte/PDF-Dokumente/newsletter_beitraege/nwbb_beitrag_gohde_ahrens_130320.pdf (Zugriff 15.11.2013)
Hallenberg, B., Rohland, P. (2013). Herausforderung „Neue Soziale Kohäsion“. In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, Heft 5 Oktober-November 2013, S.231-234.
Klages, H. (2007). Beteiligungsverfahren und Beteiligungserfahrungen. Gutachten für den Arbeitskreis "Bürgergesellschaft und aktivierender Staat" der Friedrich Ebert-Stiftung. http://library.fes.de/pdf-files/kug/05014.pdf (Zugriff: 25.11.213)
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nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung (2009a). „Unser Boulevard“ - Bürgergutachten zur Gestaltung des öffentlichen Raumes in Artern durch ältere Menschen. Verfasst von Christine von Blanckenburg und Nicolas Bach. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. http://www.nexusinstitut.de/sites/default/files/images/stories/download/09-10-01_BG_Artern_END.pdf (Zugriff 24.11.03.12.2013)
nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung (2009b)„Usedom als deutsch-polnische Insel“ - Bürgergutachten älterer Menschen der Gemeinde Heringsdorf. Verfasst von Christine von Blanckenburg. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. http://www.nexusinstitut.de/sites/default/files/images/stories/download/09-11-28_BG_Heringsdorf_END.pdf (Zugriff 24.11.2013)
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