Mensch, sind wir aufklärt!

Wie aufgeklärt wir heute sind! Der Muff von 1000 Jahren: längst haben wir gut gelüftet. Revanchismus: ein Phänomen von gestern. Und fast jedes Kind weiß heute schon, was gegen AIDS oder gegen den Klimawandel getan werden kann.  Die informationsüberflutete Gesellschaft hat im seltenen Zweifelsfalle ja sogar noch das Internet, indem scheinbar jede Frage nullkommanix beantwortet wird.

Logo, denn das Zeitalter, in dem die „Aufklärung „erkämpft wurde, liegt ja auch schon zwei-, dreihundert Jahre zurück.  Damals ging es darum, das Denken mithilfe der Vernunft von alten Mustern und Autoritätsmustern zu lösen. Was zuerst als philosophische Schule auf akademischen Parkett begann, beeinflusste schließlich ganz wesentlich die Französische Revolution.

Immanuel Kant, sicher einer der bekanntesten Philosophen des 18. Jahrhunderts, hinterließ den Kategorischen Imperativ, der in seiner prägnantesten Form lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“  Was das alles mit heute zu tun hat? Die großen Aufklärer forderten, sich seines eigenen Verstandes, der eigenen Vernunft, bewusst zu werden, und danach – entsprechend dem Kategorischen Imperativ – zu handeln. So weit, so gut. Doch wie ist das heute, wo wir doch alle schon so vernünftig sind!?

Zwei Beispiele, ganz plakativ: der Klimawandel hat monatelang die Medienlandschaft geprägt und es sogar bis an die Stammtische geschafft. Klar, die Folgen der Klimaveränderung sind immer schwerer zu übersehen und die Warnungen mittlerweile auch eindeutig, genauso eindeutig wie die Warnungen vor einer dramatisch schwindenden Artenvielfalt. Die Zerstörung von Lebensräumen, Umweltschäden, die Übernutzung natürlicher Ressourcen, der Regenwald, das Öl, die Kohle, und der unkontrollierte CO2-Ausstoß – das alles passiert vor unseren Augen. Wir wissen darum, wir sind ja längst aufgeklärt, und wir haben auch ein wenig Sorge. Ändert das was? Nun ja. Ein umweltbewusster Lebensstil ist mittlerweile zwar angekommen „in der Mitte der Gesellschaft“, ein Massenphänomen ist er jedoch noch nicht. Dabei kann gerade hier Wissen zu Macht werden, zu Gestaltungsmacht. Egal, ob beim Einkaufsverhalten, mit dem nachhaltiges, tier- und umweltgerechtes Land-Wirtschaften gefördert werden kann, oder in der Freizeit, wo das Fahrrad wieder aus dem Keller geholt wird, Wissen und Handeln müssen keine verschiedenen Paar Schuhe sein.  Das Schöne daran ist, dass vernunftgeleitetes Handeln keineswegs so spaßfrei sein muss wie es vielleicht im ersten Moment klingt. Wer es ausprobiert, ist klar im Vorteil. Es muss ja nicht gleich eine Französische Revolution sein, aber eine friedliche Revolution für den Klimaschutz, das wäre was.

Beispiel zwei:  spätestens am Wahlabend sind sie wieder zu hören, die Klagen über schlechte Wahlbeteiligung und die Analysten, die seit Jahrzehnten immer wieder das gleiche Wort im Munde führen: Politikverdrossenheit. Im Osten Deutschlands natürlich besonders schlimm. Haben die denn nichts gelernt in 20 Jahren deutscher Einheit? Wie oft soll das mit der Demokratie denn noch erklärt werden?

Vielleicht sind das die falschen Fragen. Natürlich gilt es, jeden Tag zu lernen, wie Demokratie funktioniert, für unser demokratisches Zusammenleben zu werben und auch Demokratie zu verteidigen, wo sie bedroht wird. Doch es gibt nichts Gutes, außer: man tut es. Das ist kein aufklärerisches Philosophenzitat, sondern Erich Kästners richtige Erkenntnis. Richtig, weil Spaß und Lust auf Demokratie nur durch demokratisches Handelns selbst entsteht. Es ist richtig, in Schulen und Bildungseinrichtungen jeder Coleur über die Wirkungsweise der Demokratie zu informieren – ja, wir brauchen sogar mehr davon. Doch vor allem brauchen wir mehr demokratische Freiräume, Räume in denen Erfahrung wächst, welche Gestaltungsmöglichkeiten (aber auch welchen Rahmen) demokratische Prozesse und Institutionen bieten. Das fängt in der Schule an, und hört im Jugendclub oder Verein noch lange nicht auf. Mehr Demokratie, das ist nicht nur Willy Brandt oder der Name eines Vereins, das ist ein Programm der Aufklärung!  Mehr Demokratie, das kann auch Streit bedeuten, doch Streit ist ein Wesensmerkmal von Demokratie, und das ist auch gut so. Streit, demokratisch geführt, ist das Ringen um Argumente, das ist Überzeugungsarbeit, manchmal auch Kernerarbeit. Nicht immer kommt eine Entscheidung dabei rum, die man oder frau begrüßt. Doch selbst in solchem Fall bleibt die Aufklärung darüber, dass es Gründe gibt, die auch eine andere Entscheidung sehr wohl legitimieren.

 
 
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Katrin Göring-Eckardt ist seit 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen. Darüber hinaus wurde sie 2009 als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt.

1966 in Friedrichroda (Thüringen) geboren, studierte sie Theologie in Leipzig und war 1989 Gründungsmitglied von "Demokratie Jetzt" und "Bündnis 90". Die friedliche Revolution und der Aufbruch- und Veränderungswille dieser Zeit führten sie in die Politik. Bis 1994 war sie Mitarbeiterin der ersten bündnisgrünen Landtagsfraktion, anschließend für vier Jahre Landessprecherin der Thüringer Grünen. In diese Zeit fällt auch ihr Engagement im Bundesvorstand der Partei (1996-98). Seit 1998 arbeitet sie im Bundestag, wo sie zuerst Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion war und später Fraktionsvorsitzende.