Inhalt:
Ursprünge des Exklusionsparadigmas und erste Verwendung des Begriffs
Akademische und politische Debatten um Exklusion
Probleme des Exklusionsbegriffs
Fazit: Welcher Begriff von Exklusion?
Literatur
Ursprünge des Exklusionsparadigmas und erste Verwendung des Begriffs
Exklusion wird im Allgemeinen als Bedrohung des sozialen Zusammenhalts (soziale Kohäsion) diskutiert und ist somit eng mit der Grundfrage der Soziologie, der Frage nach der sozialen Ordnung, verbunden. Mit dieser Frage haben sich Klassiker der Soziologie in verschiedenster Form befasst und daher findet man bereits bei ihnen viele Hinweise zum Thema Exklusion, wenn auch ohne Verwendung des Begriffs selbst.
Der Begriff Exklusion tauchte zum ersten Mal im Frankreich der 1960er Jahre auf (Wagner 2007: 1). Entscheidend wurde er durch das 1974 erschienene Buch „Les exclus - Un Français sur dix“ von René Lenoir, Staatssekretär in der Regierung Jaques Chirac, geprägt (Stichweh 1997: 124). Diese erste Verwendung und weitere Verbreitung des Begriffs stand weniger in einem akademischen als in einem politischen Zusammenhang (Silver & Daly 2008: 543). Erst in den 1980er Jahren rückte der Begriff Exklusion durch die Erfahrungen der „Krise des Fordismus“ und der daraus resultierenden Rückkehr und strukturellen Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit stärker ins Zentrum der akademischen Diskussionen (Anhorn 2008: 33; Kronauer 2002: 41).
Akademische und politische Debatten um Exklusion
In Frankreich war und ist die akademische Diskussion um Exklusion durch eine starke Orientierung an Lohnarbeit und Arbeitsmarkt gekennzeichnet. Zentrale theoretische Überlegungen stammen von Robert Castel und Serge Paugam, die beide kritisch mit dem Exklusionsbegriff umgehen und ihn in letzter Konsequenz ablehnen. Robert Castel (2000) beschreibt in „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ die Entwicklung der Lohnarbeit als Entwicklung und Krise der organischen Solidarität, d.h. einer Form der Solidarität, die auf sozialer Arbeitsteilung basiert. Er interpretiert reguläre, sozial abgesicherte und stabile Erwerbsarbeit als „irreduzible[n] Integrationsanker“ (Kraemer 2007: 128), jedoch nimmt er an, dass für einen immer größer werdenden Teil der Erwerbsbevölkerung die „Identität durch Arbeit“ verloren gegangen ist (Castel 2000: 360; Hervorhebungen im Original.). Er geht von einer starken Korrelation zwischen dem innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingenommenen Platz einerseits und der Teilhabe an den Netzen der primären Sozialbeziehungen und den sich daran anschließenden Sicherungssystemen andererseits aus (Castel 2000: 13, 361ff.). Daraus abgeleitet entwickelt er drei Zonen sozialer Kohäsion: die Zone der Integration, der Verwundbarkeit und der Entkopplung (Castel 2000: 360f.). Robert Castel weist damit den Begriff der Exklusion zurück, da es nach ihm für Menschen unmöglich ist, außerhalb gesellschaftlicher Bezüge zu leben. Er verwendet stattdessen den Begriff „désaffilation“, d.h. Ausgliederung, Entkopplung (Castel 1996). Entkopplung droht vor allem jenen, die für den wirtschaftlichen Wettbewerb nicht qualifiziert sind. Für Robert Castel (2008: 73; Hervorhebungen im Original) ist es zentral, „das Kontinuum von Positionen zu rekonstruieren, durch das die ‚drinnen’ und die ‚draußen’ verbunden sind, und die Logik zu erfassen, nach der die ‚drinnen’ die ‚draußen’ produzieren“. Exklusion ist somit „eine Form negativer Diskriminierung, die nach strengen Regeln konstruiert ist“ (Castel 2008: 83).
Stärker in der Tradition der Armutsforschung verwurzelt, entfernte sich Serge Paugam ebenso wie Robert Castel vom Begriff der Exklusion. Er arbeitet mit dem Konzept der sozialen Disqualifizierung, das sich „auf den Prozess der Verdrängung breiter Kreise der Bevölkerung vom Arbeitsmarkt [richtet] und die Erfahrungen, die im Rahmen des Fürsorgebezugs … gemacht werden“ (Paugam 2008: 214). Soziale Disqualifizierung ist für ihn ein Prozess mit unterschiedlichen Phasen, die sich aneinander reihen und in Situationen extremer Deprivation enden können, jedoch nicht irreversibel sind (Paugam 2004: 74). Disqualifizierende Armut zeichnet sich nach ihm durch ein kollektives „Bewusstwerden des Phänomens der ‚Neuen Armut’ oder der ‚Ausgrenzung’“ und einer kollektiven Furcht vor dem Ausgrenzungsrisiko aus (Paugam 2008: 114, 213ff.). Da die Angst, ausgegrenzt zu werden, vor allem Menschen im Erwerbsalter betrifft, stellt Serge Paugam (2008: 222) die Hypothese auf, dass diese Angst besonders durch die Furcht vor Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung genährt wird. Während für Robert Castel Ausgrenzung am Arbeitsmarkt praktisch eine notwendige Bedingung für Exklusion – besser: Entkopplung – ist, nimmt Serge Paugam (1995: 66) an, dass auch Menschen, die stabile Arbeitsplätze besitzen, ausgegrenzt sein können.
Den deutschsprachigen Raum erreichte der Exklusionsbegriff mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Es war nicht zuletzt Niklas Luhmann, der das Thema Mitte der 1990er erneut aufgriff und ihm damit zu seinem Durchbruch verhalf (Wagner 2007: 2). Niklas Luhmann (1996: 228) distanziert sich unter dem Eindruck seiner Besuche der Favelas südamerikanischer Großstädte von der Annahme der Vollinklusion durch funktionale Differenzierung. Die Systemtheorie büßte jedoch bald ihre zentrale Stellung in der deutschsprachigen Diskussion um Exklusion ein und es waren insbesondere Autorinnen und Autoren aus den Bereichen Ungleichheits- und Armutsforschung, die die Diskussion weiter vorantrieben. Ein zentraler Autor in diesem Kontext ist Martin Kronauer. Für ihn sind die beiden Modi gesellschaftlicher Zugehörigkeit Interdependenz und Partizipation (Kronauer 2002: 151ff.). Interdependenz umfasst die Einbindung in familiäre und anderweitige soziale Netze sowie die Einbindung in die gesellschaftlich anerkannte Arbeitsteilung. Partizipation umfasst die drei Dimensionen materielle, politisch-institutionelle und kulturelle Teilhabe. Interdependenz und Partizipation gingen nach dem Zweiten Weltkrieg eine bis dahin nicht gekannte Verbindung ein, die jedoch durch die „Krise des Fordismus“ massiv in Frage gestellt wurde. Im „Inneren“ des Geltungsbereichs von Staatsbürgerrechten sind infolgedessen Kämpfe darüber entbrannt, wie sich Interdependenz und Partizipationsrechte in Zukunft zueinander verhalten sollen (Kronauer 2002: 117f.).
Für die mehrdimensionale Betrachtung des Exklusionskonzepts sowie dessen empirische Überprüfung setzt sich insbesondere Petra Böhnke (2001a, 2001b, 2002) ein, die drei Dimensionen sozialer Ausgrenzung vorschlägt. Erstens eine distributionale bzw. materielle Dimension, zweitens eine relationale bzw. partizipatorische Dimension und drittens eine subjektive Dimension. Diese dritte Dimension ist wichtig, weil Exklusion individuell erfahren wird und Wahrnehmungen und Bewertungen die Lebens- und Handlungsweisen von Individuen entsprechend strukturieren (Böhnke 2006: 88).
In der sozialpolitischen Diskussion um Exklusion ist ein europäischer Bezugsrahmen dominant. Der Kampf gegen Exklusion fand gesonderte Erwähnung in der Präambel der Sozialcharta der Europäischen Union (EU) und ist seitdem wichtiger Bestandteil der europäischen Sozialpolitik (Berghman 1995: 10f.). Ab Ende der 1980er förderte die Europäische Kommission vermehrt Studien und Programme zur Vermeidung von Exklusion. Problematisch ist, dass in der EU-Politik häufig vom Kampf gegen Exklusion gesprochen wird, auch wenn es sich lediglich um Maßnahmen gegen Armut und Arbeitslosigkeit handelt (Levitas 1996). Arbeit wird in der EU-Politik somit nach wie vor als zentrales Integrationsmedium betrachtet (Levitas et al. 2007: 27), was jedoch problematische Züge bergen kann, wenn hierdurch beispielsweise die Ausbreitung prekärer Beschäftigung gerechtfertigt und weitere zentrale Partizipationsbereiche ausgeklammert werden.
Probleme des Exklusionsbegriffs
Wie sich bereits abzeichnete, ist der Exklusionsbegriff problembelastet. Das erste Problem liegt in der Unklarheit darüber, was mit Exklusion genau bezeichnet wird. Durch den Mangel an theoretischer Präzision, der auch beim Versuch einer empirischen Umsetzung bzw. Messung des Konzepts zutage tritt, bleibt die Abgrenzung des Exklusionsbegriffs vom klassischen Armutsverständnis eine offene Frage. Die Beantwortung der Frage wird zudem dadurch erschwert, dass die Definition von Exklusion an den sozialstaatlichen Versorgungscharakter des jeweiligen Landes und die dort vorherrschenden Diskurse gebunden ist (Böhnke 2002: 48).
Das zweite Problem betrifft die so genannte Diskontinuitätsannahme. Diskontinuität meint in der Exklusionsdebatte eine zweigeteilte (dichotome) Unterscheidung von „Dazugehören“ und „Nichtdazugehören“. Martin Kronauer (1999: 62) bezeichnet die Diskontinuitätsannahme als eine „paradoxe Vorstellung einer Innen-Außen-Spaltung der Gesellschaft“. Zum einen stehen selbst Personen, die besonders scharfen Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind, immer noch in vielfältigen sozialen Bezügen (Callies 2008: 264). Ein komplettes Herausfallen aus allen gesellschaftlichen Bezügen findet, besonders in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, nicht statt (Silver 2006: 4411). Zum anderen verstellt die analytische Trennung nach Inkludierten und Exkludierten den Blick auf den Konflikt zwischen ihnen. Daher bleibt auch unbeachtet, wie das „Draußen“ durch das „Drinnen“ produziert wird. Weiterhin läuft eine dichotome Einteilung Gefahr, das „Drinnen“ zu idealisieren und Probleme auf das „Draußen“ zu verlagern (Anhorn 2008: 25f.). Dies geht häufig mit einer Defizithypothese über die Menschen „Draußen“ und einer Be- und Verurteilung dieser einher, beispielsweise als bedingt gesellschaftsfähig (Cremer-Schäfer 2008: 162; Kronauer 2006: 40).
Drittens erhält der Begriff Exklusion seine Bedeutung durch den Bezug auf sein Gegenbild, d.h. durch die normative Vorstellung darüber, was Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft bedeutet (Kronauer 1997: 36). Besonders in der Systemtheorie, aber auch in anderen Theorietraditionen, gilt Inklusion geradezu als logische Alternative von Exklusion. Jedoch wird der Begriff von verschiedenen Seiten kritisch hinterfragt. Hilary Silver & Mary Daly (2008: 556) beispielsweise betonen, dass Inklusion implizieren kann, sich an Praktiken und Werten von Gruppen assimilieren zu müssen. Weiterhin ist Inklusion nach Hilary Silver (2006: 4413) gewöhnlich ein Euphemismus für die Wiedereingliederung der Arbeitskraft. Dagegen existieren auch Vorstellungen von Inklusion, wie z.B. die von Jürgen Habermas, die sich strikt gegen jede Form von Uniformität richten. Inklusion heißt für ihn, dass sich „das politische Gemeinwesen offenhält für die Einbeziehung von Bürgern jeder Herkunft, ohne diese Anderen in die Uniformität einer gleichgearteten Volksgemeinschaft einzuschließen“ (Habermas 1998: 112; Hervorhebung im Original).
Fazit: Welcher Begriff von Exklusion?
Aus den im vorangegangenen Kapitel dargestellten Problemen des Exklusionsbegriffs lässt sich folgende Arbeitsdefinition von Exklusion ableiten: Erstens muss Exklusion als ein relationaler Begriff betrachtet werden. In Bezug auf soziale Teilhabe und Rechte stehen dabei Fragen zur Ressourcenverteilung, zu Interaktionsbeziehungen und zur Chancengleichheit im Zentrum.
Zweitens stellt Exklusion ein mehrdimensionales Phänomen dar, wobei der subjektiven Wahrnehmung von Exklusion eine besondere Rolle beigemessen wird. Drittens ist Exklusion ein gradueller Prozess, d.h. es herrscht keine klassisch dualistische Vorstellung von Exklusion vor.
Ausgrenzung ist als Ausgrenzung in der Gesellschaft zu betrachten. Ziel politischer Bemühungen muss daher nicht Wiedereingliederung, sondern die Beseitigung ausgrenzender sozialer Verhältnisse sein.
Literatur
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