"Als Folge Ihrer Krankheit beeinträchtigt Ihre Anwesenheit in der Bundesrepublik Deutschland die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung“

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Die Wandlung Europas vom Auswanderungskontinent des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Einwanderungskontinent der letzten 50 Jahre ist eine der zentralen Entwicklungen, die Politik und Gesellschaft heute prägen. Zuwanderung mit all ihren Facetten ist zu einem häufig diskutierten Thema geworden. Anlass dazu geben meist kulturelle Fremdheitserfahrungen, insbesondere mit muslimischen Zuwanderern, etwa in der Kopftuchdebatte. Besonders zugespitzt geführt werden solche Debatten, wenn kriminelles Verhalten angesichts fremder kultureller Zugehörigkeiten als eine prinzipielle Anfechtung des kollektiven Normensystems – und daher als besonders bedrohlich – empfunden bzw. deklariert wird. Eine Ausweisung ausländischer Straftäter scheint zumindest für Teile der Aufnahmegesellschaften in solchen Debatten eine Lösung dieser Problematik darzustellen. Das Ausländerrecht der Bundesrepublik bietet – ähnlich wie viele andere Gesetzeswerke dieser Art in Europa – diese Möglichkeit. Im Falle einer Anwendung tritt die Ausweisung nicht an die Stelle einer Gefängnisstrafe, sondern wird nach deren Verbüßung verhängt, obwohl die Straftat damit eigentlich als gesühnt gilt. Neben dieser Option des Nationalstaats, auf deviantes Verhalten mit einer Entfernung des Betreffenden zu reagieren, bot das bundesdeutsche Ausländerrecht bis 1990 auch eine ähnliche Klausel für die Ausweisung psychisch kranker Migrant_Innen. Die unter nationalsozialistischer Herrschaft erlassene Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 hatte erstmals vorgesehen, dass Ausländer_Innen, die zur „Sicherung und Besserung“ in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wurden, ein weiterer Aufenthalt in Deutschland verweigert werden konnte.[1] Im Gegensatz zu späteren NS-Verordnungen sprach aus dieser Verordnung noch nicht die rassistisch fundierte Vernichtungsabsicht des Regimes gegenüber Fremden und die Innenpolitiker der jungen Bundesrepublik sahen Anfang der 1950er Jahre nach einigen sprachlichen Korrekturen keinen Grund, die APVO nicht zur Grundlage des Migrationsregimes zu erklären. Auch das als Beleg der westdeutschen Liberalität und Weltoffenheit deklarierte Ausländergesetz von 1965 enthielt eine nahezu wortgleiche Klausel zur Ausweisung psychisch Kranker, ohne dass dies besondere Aufmerksamkeit erfahren hätte.[2]

Ob eine psychische Erkrankung in der Verwaltungspraxis zur absoluten Exklusion einer Ausweisung führte, hing von mehreren Faktoren ab. Sowohl die APVO von 1938 als auch das Ausländergesetz von 1965 sahen keinen Zwang zur Ausweisung vor, sondern eröffneten den Ausländerbehörden lediglich die Möglichkeit dazu. Im Gegensatz zu Nachbarländern wie Frankreich und Belgien war in der Bundesrepublik keine zentralstaatliche Instanz für Aufenthaltserlaubnisse und Ausweisungen zuständig. Dies fiel vielmehr in die Kompetenz der Städte und Kreise, sodass lokale Gegebenheiten hier eine stärkere Rolle spielten. Hinzu kam der unterschiedliche Umgang mit psychisch Kranken allgemein: Personen, bei denen ein Arzt_eine Ärztin eine Fremd- oder Eigengefährdung festgestellt hatte, konnten per Gerichtsbescheid in solchen Einrichtungen untergebracht werden. Geregelt war diese Möglichkeit in Westdeutschland nicht einheitlich auf Bundesebene, sondern in sogenannten Psychisch-Kranke-Gesetzen oder Unterbringungsgesetzen auf Länderebene. Am folgenden Beispiel lässt sich zeigen, welche Faktoren darüber hinaus noch eine Rolle spielten:[3]

Der türkische Staatsbürger Okan Canavar reiste 1972 als 13-Jähriger nach dem Tod seiner Mutter über den Familiennachzug in die Bundesrepublik ein, um bei seinem Vater zu leben. Bereits zwei Jahre später ließ ihn sein Vater zum ersten Mal zur Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen. Für eine erneute Einweisung 1977 erwirkte die Gemeinde Bedburg-Hau (NRW) eine gerichtliche Verfügung gegen den mittlerweile volljährigen Canavar. Als Begründung, warum Canavar „eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ sei, gab das zuständige Gesundheitsamts an, dieser zeige Aggressionen, Tendenzen zur Selbstverletzung und sei gewalttätig gegenüber Familienangehörigen. Der zuständige Arzt beschrieb familiäre Konflikte von erheblichem Ausmaß, die seiner Meinung nach auch durch die erneute Heirat des Vaters mit einer dem Sohn Gleichaltrigen zustande kamen und die psychischen Probleme des Sohnes zusätzlich verschärften. Auf diese Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung bezog sich die Kreisausländerbehörde Wesel, als sie im April 1977 eine Ausweisungsverfügung gegen Canavar erließ. In der Verfügung finden sich lange Zitate aus dem Befund des Arztes. Die Behörde argumentiert darin, „als Folge Ihrer Krankheit beeinträchtigt Ihre Anwesenheit in der Bundesrepublik Deutschland die innere Sicherheit und öffentliche Ordnung im Bundesgebiet und somit wesentliche Belange“. Die Ausländerbehörde hatte von den Klinikaufenthalten erst durch den Vater erfahren, der die Beamten aufforderte, seinen Sohn nach Ablauf der angeordneten Behandlung nicht auf freien Fuß zu setzen, sondern ihn in die Türkei abzuschieben. Eine routinemäßige Berichtspflicht psychiatrischer Einrichtungen an die Ausländerbehörden bestand in der Bundesrepublik nicht. Vollstreckt wurde die Ausweisungsverfügung jedoch nicht, da sie zu einem Zeitpunkt zugestellt werden sollte, als Canavar bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden und somit der zugrunde liegende „Tatbestand“ nicht mehr gegeben war.

Als 1979 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis anstand, ließ die Ausländerbehörde seinen psychischen Zustand durch den Amtsarzt untersuchen. Canavar, der zuvor als Bergmann gearbeitet hatte, war zu diesem Zeitpunkt seit einigen Monaten arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld, das unter dem Sozialhilfesatz lag und daher aufgestockt wurde. Die Ausländerbehörde hatte nach einem Hinweis des zuständigen Sozialamtes eine Ausweisung wegen des Bezugs sozialer Transferleistungen erwogen, sich aber dagegen entschieden, da Canavar seit Anfang 1977 unter den Schutz des europäischen Fürsorgeabkommens fiel. Angesichts des ärztlichen Befundes, der die für eine Ausweisung nötige Begründung lieferte, entschloss sich die Behörde erneut dazu, eine Ausweisungsverfügung gegen Canavar zu erlassen. Der Amtsarzt diagnostizierte eine „schwere Psychopathie“ mit Krankheitswert und zog daraus die Schlussfolgerung: „Danach rechtfertigt der Gesundheitszustand des Herrn C. eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht“. Einen Behandlungsvorschlag enthielt der Befund nicht. Canavar ließ sich von einem Anwalt vertreten, der gegen die Ausweisung mit dem Argument der Ermessensfehlerhaftigkeit Widerspruch einlegte. Sein Anwalt stützte sich dabei auf ein neuro-psychiatrisches Gutachten, das im Rahmen eines vom Vater wegen Körperverletzung angestrengten und in einem Freispruch endenden Strafverfahrens angefertigt worden war, und zitierte ausgiebig daraus. Dem ausstellenden Facharzt zufolge traf beim Fall Canavar keineswegs die Diagnose einer Psychopathie von Krankheitswert zu, sondern dieser habe eine weitgehend normale Entwicklung durchlaufen. Um ihre Position zu untermauern, wandte sich die Ausländerbehörde erneut an den Amtsarzt, der dem Gutachten insoweit zustimmte, dass bei Canavar „keine echte Geisteskrankheit“ vorliege, aber erhebliche psychische Auffälligkeiten, die aufgrund ihres Ausmaßes als Krankheit zu werten seien. Als Beleg für seine Störung habe auch seine Arbeitslosigkeit zu gelten.

Der Regierungspräsident Düsseldorfs wies den Widerspruch mit der Begründung ab, die Ausländerbehörde habe innerhalb des ihr zustehenden Ermessensspielraums entschieden – eine Auffassung, der sich auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf anschloss. Dennoch wurde auch die zweite Ausweisungsverfügung nicht vollstreckt, da der Amtsarzt zwischenzeitlich eine Verbesserung seines Zustandes attestierte. Zwei Jahre später änderte sich der Befund erneut zum Negativen, was zu einer dritten Ausweisungsverfügung führte, die letztlich auch mit Canavars Abschiebung in die Türkei vollstreckt wurde. Eine erneute Klage gegen die Ausweisung hatte keinen Erfolg. Das psychiatrische Krankenhaus, in dem Canavar kurz vor der Abschiebung behandelt worden war und in dem er aus Protest in einen Hungerstreik eintrat, erklärte jedoch ausdrücklich, seine Überführung in die Türkei nur verantworten zu können, wenn er dort weiter in einer entsprechenden Einrichtung betreut werde.

Dieser Einwand seitens der für die Behandlung von Okan Canavar im Moment der vollzogenen Exklusion aus dem Staatsgebiet der Bundesrepublik zuständigen Institution lässt den Konflikt zwischen zwei Systemen deutlich hervortreten. Die auf die Diagnose einer Selbst- und Fremdgefährdung folgende Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt sollte zwei Funktionen erfüllen: Erstens der Schutz des Patienten vor selbst zugefügten Verletzungen beziehungsweise vor einem durch die Krankheit ausgelösten Suizid und zweitens der Schutz der Gesellschaft vor unkontrollierten Handlungen nicht zurechnungsfähiger Akteur_Innen. Daran anschließend sollte eine Therapie soweit möglich eine Besserung seines Zustandes erreichen. Sowohl die Ärzt_Innen der Einrichtungen als auch das Gericht, das Canavars Einweisung verfügte, gingen dabei von der Vorstellung einer geschlossenen Gesellschaft aus, deren Mitglieder auch dann nicht exkludiert werden konnten, wenn sie mit den Normen dieses Kollektivs – sei es krankheitsbedingt oder intentional – in Konflikt gerieten. Für die mit der psychiatrischen Betreuung befassten Akteur_Innen kam noch die ärztliche Fürsorgepflicht hinzu, die bei nicht-autonomen Patienten umso stärkere paternalistische Züge annahm.[4]

Die Ausländerbehörde und auch der von ihr beauftragte Amtsarzt sahen psychisch kranke Akteur_Innen wie Canavar demgegenüber als Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, deren Ausweisung aus dem Einflussbereich der Behörden als Lösung dieses Problems gesehen wurde. Warum kam die rechtlich vorgesehene Möglichkeit einer solchen Exklusion hier tatsächlich zum Tragen? Als wichtigster Grund ist zu nennen, dass die Familie in diesem Fall aufgrund gravierender Konflikte nicht wie ansonsten meist üblich als Solidarnetzwerk fungierte, das seine Ressourcen mobilisierte, um ein Eingreifen der Behörden zu verhindern. Vielmehr waren die Verwandten hier mit der Erkrankung und ihren sozialen Folgen so überfordert, dass sie die Abschiebung des kranken Familienmitglieds letztlich begünstigten und begrüßten. Auch wenn in diesem Fall einige spezifische Konstellationen aufeinander trafen, war die Eskalation der Situation keineswegs ungewöhnlich. Sozialepidemiologischen Studien haben gezeigt, dass sowohl die Schwere psychischer Erkrankungen als auch die Länge der daraus resultierenden stationären Psychiatrieaufenthalte mit dem Absinken der beruflichen Stellung und dem (Aus-)Bildungsniveau deutlich zunahmen. In unteren sozialen Schichten griffen bei psychischen Problemen auch seltener Frühwarnsysteme, die zu einer rechtzeitigen Therapie führten und somit das Auftreten besonders schwerer Krankheitssymptome eventuell verhindern konnten.[5] Angehörige unterer Schichten, zu denen Migrant_Innen überproportional gehörten, wurden also meist erst behandelt, wenn die Symptome ihrer psychischen Erkrankungen bereits massive Konflikte ausgelöst hatten.[6]

Die dauerhafte Exklusion psychisch kranker Migrant_Innen war auf den ersten Blick eine westdeutsche Besonderheit, die sich derart explizit in keinem der Ausländergesetze der anderen großen westeuropäischen Einwanderungsländer findet. Auf der Ebene der Praktiken kamen solche Fälle auch in Frankreich oder Belgien jedoch durchaus vor, etwa wenn die betreffenden Akteur_Innen wegen ihrer Erkrankung nicht arbeiten konnten und sich noch nicht lange genug im Land aufhielten, um unter den Ausweisungsschutz arbeitsloser Ausländer_Innen zu fallen. Eine andere Möglichkeit, wie es zu einer Ausweisung psychisch Kranker kommen konnte, bestand in einer Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen, die durch deren Zustand begünstigt wurden, wie etwa das Erregen öffentlichen Ärgernisses. Beide Konstellationen lassen sich als Exklusionen zweiter Ordnung beschreiben, da die Ausweisungen nicht mit der Erkrankung selbst, sondern mit möglichen Folgen begründet wurden.

Das Ausländerrecht kollidierte in der Bundesrepublik bis 1990 demgegenüber explizit mit der Betreuung psychisch Kranker, die sich seit den 1960er Jahren stärker an Patientenrechten orientierte und eine gesellschaftliche Entstigmatisierung solcher Krankheiten anstrebte.  

Literaturverzeichnis:

Assion, Hans-Jörg: Migration und psychische Krankheit, in: Hans-Jörg Assion (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit, Heidelberg 2005, S. 133-144.

May, Arnd: Autonomie und Fremdbestimmung bei medizinischen Entscheidungen für Nichteinwilligungsfähige, (Ethik in der Praxis, Band 1), Münster 2000.

Möller, Hans-Jürgen: Psychiatrie und Psychotherapie, Heidelberg 2005.

Pleinen, Jenny: Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg, (Moderne Zeit, Band 24), Göttingen 2012.

 

[1]Paragraph 5, Absatz 1, Satz c, APVO 22.08.1938.

[2]Paragraph 10, Absatz 1, Satz 3, AuslG 28.04.1965. Ausgiebig diskutiert wurde hingegen ein Artikel, der die politische Betätigung von Ausländer_Innen einschränkte, wenn sie die „Belange“ der Bundesrepublik gefährdeten – wozu teilweise auch die außenpolitischen Beziehungen zu Diktaturen gezählt wurden, wenn diese Anstoß an regimekritischen Aktivitäten von Exilanten auf westdeutschem Boden nahmen.

[3]Einzelfallakten der Kreisausländerbehörde Wesel, Akte Nr. 52945.

[4]May, Autonomie und Fremdbestimmung, S. 39.

[5]Möller, Psychiatrie und Psychotherapie, S. 242f.

[6]Einzelne Studien zeigen darüber hinaus auch eine größere Disposition für psychotische und schizophrene Störungen bei Migrant_Innen und ethnischen Minderheiten, lassen jedoch keine verallgemeinernden Aussagen zu. Assion, Migration und psychische Krankheit, S. 140f.