Refugees welcome!? Europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik in der Kritik

Syrische Geflüchtete am Keleti Bahnhof, Budapest

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Vom 3. bis 5. November reiste der Europasalon durch Dresden, Chemnitz und Leipzig und beschäftigte sich aus aktuellem Anlass mit der Europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Die gegenwärtigen internationalen Konflikte haben die größte Fluchtbewegung seit dem 2. Weltkrieg ausgelöst. Derzeit befinden sich knapp 60 Millionen Menschen unfreiwillig außerhalb ihrer vertrauten Umgebung. Obwohl 80 Prozent der Menschen Zuflucht innerhalb des eigenen Landes oder den angrenzenden Regionen suchen, ist in Europa von einer überbordenden Flüchtlingskrise die Rede. Als Reaktion darauf ist eine flächendeckende Abschottungspolitik in den Nationalstaaten zu beobachten, was europäische Richtlinien ignoriert, den Wert der zwischenstaatlichen Solidarität vereitelt und gravierende Konsequenzen für die Schutzsuchenden hat. Die Flucht nach Europa ist dadurch lebensgefährlich geworden. In den vergangenen zwei Jahren sind allein beim Fluchtversuch über das Mittelmeer offiziell 5800 Menschen gestorben. Seit dem Jahr 2000 kursieren sogar Zahlen von mehr als 30.000 Toten. Damit ist dieser Teil der europäischen Außengrenze zur Gefährlichsten der Welt avanciert.

Auf Grund dieser Eindrücke stellten wir während unserer Diskussionen folgende Fragen:

  • Welche politischen Leitlinien haben sich in der Europäischen Union entwickelt, um die Einzelstaaten im Einklang mit den gesetzten Verordnungen und Werten zu überzeugen?

  • Welche Lösungsansätze sollen Fluchtursachen mindern?

  • Welche Berechtigung besitzt das System Dublin noch und welche Alternativen wären mehrheitsfähig?

Zur Annäherung an diese Fragestellungen diskutierten Expert_innen aus breitgefächerten Bereichen im Europasalon und lieferten unterschiedliche Perspektiven sowie Meinungen.

In Dresden trafen mit Julian Lehmann und dem Geschäftsführer der Böll Stiftung Brüssel Klaus Linsenmeier Spezialisten für Europäisches Recht und Europäische Politik auf Geraud Potago. Potago ist kamerunischer Aktivist bei der transkontinentalen Initiative Afrique-Europe-Interact und blickt auf eine fünfjährige Fluchtodyssee von seinem Heimatland nach Deutschland zurück. In Chemnitz füllte Johannes Eichenhofer den juristischen Part aus, in Leipzig vervollständigte UNHCR Beraterin Pauline Endres de Oliviera das Podium. Zudem konnte in Leipzig auch die Position der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) mit Schwerpunkt Tschechien durch die in Prag lebende Journalistin Silja Schultheis abgedeckt werden.

Europarechtliche Rahmenbedingungen – too little too late

In einem Überblick über die Entwicklung des Europarechts für Migration führten die Rechtsexpert_innen die wichtigsten Prinzipien und maßgeblichen Verordnungen ein, welche die heutige Rechts- und Politikpraxis charakterisieren. Kernelement ist die Europäisierung des Territorialpinzips durch das Schengener Abkommen, welches Freizügigkeit von Waren, Kapital, Dienstleistungen, Personen innerhalb der Mitgliedsstaaten ermöglicht und somit die nationale Verfügungsgewalt über eigenes Staatsgebiet relativiert. Die Verordnung von Dublin schränkte diese Mobilitätsfreiheit für Asylsuchende ein, indem der Verblieb zuerst betretenden EU-Mitgliedsstaat geregelt wird und eine Weiterreise nur unter engen Kriterien gestattet ist. Die Einführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sollte für einheitliche Schutz- und Verfahrensstandards sorgen. Lehmann befürwortete diese Entwicklung, bemängelte jedoch die Disparität der de facto Standards. Die jetzige Krise bezeichnete er als Ausdruck fehlender politischer Initiative und zu lang verschleppter Diskussionen. Linsenmeier interpretierte das Resultat der jetzigen Politik als ein Spannungsfeld aus instrumentalisierter Angst und Handlungsdruck.

Langfristige Lösungsansätze und Kompetenzstreitigkeiten vs. Tempo aktueller Herausforderungen

Schnell wurde die Diskrepanz zwischen fehlenden europäischen Kompetenzen in dieser Thematik und fehlendem Willen zur Umsetzung auf nationaler Ebene klar. Wo der Brüsseler Büroleiter der Böll Stiftung die Integrationspolitik als Versagen der Mitgliedsstaaten monierte, betonte Endres, dass national unterschiedliche soziale Standards zu dieser Ungleichheit führen würden und eine europäische Sozialpolitik diese Disparitäten besser regeln könnte. Mehr Kompetenzen können jedoch nur durch langwierige Vertragsänderungen oder das Schließen bi-/multilateraler völkerrechtlicher Verträge eingeführt werden. Zum jetzigem Zeitpunkt würde eine tiefgreifende Revision weder dem Tempo der zu lösenden Herausforderungen, noch der politischen Großwetterlage gerecht. Weiterhin ist laut Linsenmeier das Konsensprinzip des Rats, welcher Regelungen mit gesetzlicher Wirkung durchsetzen kann, in Konfliktsituationen äußerst hinderlich. Linsenmeier deklarierte, es bräuchte eine europäische Anstrengung und Solidarität statt Abschottung und Renationalisierung. Das Europäische Parlament sei hierbei zwar äußerst aktiv, besitze aber nur begrenztes Initiativrecht.

Zur Kontextualisierung betonte Eichenhofer den medial nur selten genannten Fakt, dass nicht Europa, sondern China, die Türkei, Iran, Tschad und Pakistan die größten Aufnahmeländer seien und mit 38,2 Millionen über die Hälfte der Geflüchteten Schutz innerhalb ihres Heimatlandes suchten.1

Die Europäische Migrationsagenda –Abschreckung und Verlagerung der Krise

 POP UP für Zusammenfassung der Europäischen Migrationsagenda

Die im April 2015 verabschiedete und seither stetig angepasste Migrationsagenda erntete viel Kritik vom Podium. Linsenmeier bescheinigte praktischen Maßnahmen wie Hot Spots und Mobilitätspartnerschaften eine mittelfristige Verschlimmerung der Situation, welche nur zu einer Verschiebung der Krise führen würden, jedoch nicht die Ursachen für Flucht und Migration linderten. So sei beispielsweise der sogenannte Kartoum Prozess offiziell zur Bekämpfung von Menschenhandel und irregulärer Migration eingeführt worden, um in Form von Informationszentren und verstärkten Grenzkontrollen bereits in den Herkunftsländern Kooperationen gegen Abwanderung in die EU zu schließen. Die EU Kommission schloss diese Abkommen bereits im November 2014 mit neun afrikanischen Staaten, darunter zerfallenden Staaten wie Somalia oder autoritären Regimen wie dem Sudan oder Eritrea.

Hinsichtlich der Aufnahme von Geflüchteten gemäß der Quotenregelung war vor allem die Rede von Symbolpolitik. Laut Linsenmeier seien erst 80 der vereinbarten 120.000 Resettlement-Flüchtlinge zugeteilt worden. Das zu nationenbezogene Denken wirke damit zusätzlich konfliktverstärkend und fördere Verdrossenheit sowie steigenden Rechtspopulismus.

Das Ende vom System Dublin? Eine Suche nach Alternativen

Auf Grund der aktuellen politischen Lage ist die Berechtigung der europäischen Einreiseverordnung umstritten und steht 2016 auf dem Prüfstand. Die Inhalte und Wirkungsmechanismen des Abkommen stellten einen kontroversen Diskussionspunkt dar, der dem Publikum ein vielseitiges Meinungsspektrum bot.

Der pragmatische Ansatz

Julian Lehmann hielt es für vorstellbar und am schnellsten umsetzbar, bei Dublin zu bleiben, Relocation-Programme vermehrt einzusetzen und die Quotenregelung in Notfallsituationen besser strukturiert einzusetzen. Er unterstrich die positiven Aspekte der Regelung, da sie Familienzusammenführung und die Einzelklage ermögliche. Der Quotenvorschlag, so fügte Lehmann hinzu, sei allein nicht mehrheitsfähig. Zwar wäre er aus nationaler Sicht machbar, aber Bedürfnisse der Asylsuchenden sowie Familiennachzug und Einzelklagen könnten nicht berücksichtigt werden. Zudem sei es vorstellbar, die Souveränitätsklausel zu verbessern, die Ländern die Bearbeitung eines Asylantrags erlaubt, auch wenn dieser in einem dritten Land gestellt wurde. Für kreativere Lösungen fehle aus seiner Sicht schlichtweg die Zeit.

Mehr Bewegungsfreiheit

Ganz anderer Meinung war Potago. Aus seiner Sicht müsse ein anderer Ansatz her, in dem die Solidarität mit Afrika wieder hergestellt werden wird. Der Kontinent bräuchte keine Entwicklungshilfe, die die Länder in einem Abhängigkeitsverhältnis behält, sondern viel mehr Hilfe zur Selbsthilfe.

Dafür biete Dublin keine Lösung, da Länder an der europäischen Peripherie überlastet blieben. Der Aktivist forderte eine Arbeitserlaubnis und freiere Bewegung zwischen den Ländern. Auch die Blue Card als Instrument zur Förderung der Arbeitsmigration Hochqualifizierter sei unrealistisch für die meisten Geflüchteten, da ein Bankkonto sowie ein Minimum von 15.000€ als Voraussetzung dienten und somit die falsche Zielgruppe angesprochen würde. Ein Brain Drain wäre die alleinige Folge und hinterließe eine einseitige Lösung, welche die Fluchtursachen nicht berücksichtige. Der Juradozent Johannes Eichendorfer pflichtete hier bei und bemängelte zudem die geringe Benutzung dieses Zuwanderungsinstruments für die gefragten Adressaten. So wurde die Blue Card insgesamt erst in 1600 Fällen benutzt.

Potago lieferte zudem eine eigene Definition von Solidarität, nach der die Krisenverursacher die meisten Geflüchteten aufnehmen müssten, womit auch Staaten wie Iran, Saudi Arabien oder die USA in den Fokus der Betrachtung gelangen würden. Diese Lösung wiederrum bietet keine unbedingte Orientierung an den Bedürfnissen der Geflüchteten und erscheint schwer umsetzbar. Die Mitdiskutant_innen unterstrichen hierbei auch, dass Solidarität ein gemeinsames Fundament haben müsse und Schuldzuweisungen diese eher zerstören würden.

Reformvorschläge

Klaus Linsenmeier bezeichnete Dublin als eine „Schönwetterpolitik mit der eindeutigen Nachricht an die Mitgliedstaaten, deren Grenzen besser zu schützen, wenn diese nicht auf den Geflüchteten sitzen bleiben wollen.“ Der Böll-Vertreter sprach sich für eine Quote als Zeichen europäischer Solidarität aus und befürwortete innereuropäische Freizügigkeit und die Stützung der Aufnahmestaaten mit einer Kopfpauschale, was auch eine Position innerhalb der europäischen Politik repräsentiert.

Neben einer reformierten Flüchtlingspolitik plädierte er für die Schaffung legaler Einwanderungswege für Arbeitsmigranten. Damit könne sich die Asylpolitik auf Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte konzentrieren und böte keine Einbahnstraße für Menschen, die nicht in diese Kategorien fallen. Die Konsulate europäischer Länder sollten zudem begrenzt mit Visa ausgestattet werden, um das Schleppergeschäft wirksamer bekämpfen zu können. Als dritten Punkt appellierte Linsenmeier an die Verpflichtung, entwicklungspolitische Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung durchzuführen.

Auch temporäre Einwanderung sei als Lösung nur kurzsichtig. Zwar stellen Rücksendungen von im Ausland erwirtschaftetem Kapital einen wichtigen Bestandteil für die Wirtschaft des Herkunftslandes dar. Aber schon die Erfahrungen der 50er und 60er Jahre in Deutschland dienten als bestes Beispiel für die Unmöglichkeit, Migration zu steuern und anzunehmen, die Familie der Arbeitnehmer_innen würde nicht nachkommen wollen.

All diese Vorstöße müssten für Linsenmeier jedoch vom Rat kommen, da die EU Kommission hier keine Kompetenzen besitzt und bei einem Vorschlag dieser Ideen womöglich Nationalismen hervorgerufen würden.

Pauline Endres de Oliviere betonte: „Die Verteilungspolitik alleine wird das Problem nicht lösen.“ Die Verordnungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem könnten nur durch europäische Sozialpolitik umfassend wirken, um die unterschiedlichen Lebensbedingungen in den Mitgliedsländern auszugleichen. Zudem müssten transparente Kriterien für sichere Herkunftsstaaten herrschen, um diese nicht als Spielball für überforderte Kriseninstrumente zu degradieren.

Perspektivwechsel – Fluchtursachen aus westafrikanischer Sicht

Geraud Potago würde aus europäischer Sicht sicherlich als Wirtschaftsflüchtling eingestuft werden. Sein Beitrag zu Fluchtursachen dekonstruierte jedwedes Vorurteil und zeichnete das Bild einer wirtschaftlich ausgebeuteten, perspektivlosen Generation. Nach einer 5-jährigen Flucht von Kamerun nach Deutschland engagiert der 29-Jährige sich für die interkontinentale NGO Afrique-Europe-Interact und cispm in Berlin.

Aus dieser Expertise und eigenen Erfahrungen konstatierte Potago, dass die eigentlichen Fluchtursachen bisher vernachlässigt wurden und illustrierte dies mit einer Metapher. Wenn man einen Baum töten wolle, so solle man die Wurzeln zerstören und nicht nur die Äste abschneiden. Die Menschen würden von ihrem Zuhause fliehen, weil sie dort keine Lebensgrundlage für sich sehen. Die Flüchtlingskrise bestehe auch nicht erst seit 2014, sondern schon jahrelang, die Union habe es jedoch seiner Ansicht nach vernachlässigt, dies den Bürger_innen zu kommunizieren

Die schwere Last des postkolonialen Erbes

Um die Gründe für Perspektivlosigkeit und Verzweiflung zu schildern, erläuterte Potago die Geschichte des Kolonialismus und die bis heute vorherrschenden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen afrikanischen und europäischen Staaten. Kamerun war bis 1918 eine deutsche Kolonie, unter welcher die Verbreitung von Plantagen und Zwangsarbeit auf indigenem Land massiv zunahm und systematisiert wurde. Mit den Versailler Verträgen ging das Gebiet 1918 offiziell in den Besitz des Völkerbundes über, der Großbritannien und Frankreich ein Verwaltungsmandat erließ. Dabei erhielt, Frankreich 80 Prozent des Landes. Daher sind bis heute Französisch und Englisch Amtssprachen in Kamerun. Der französische Staat betrieb eine massive Assimilationspolitik, die unter anderem den Gebrauch lokaler Sprachen an den Schulen verbot. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Völkerbundsmandate in Verwaltungsmandate der UNO umgewandelt, deren Ziel die allmähliche Selbstverwaltung war. Bis zur Unabhängigkeit 1960 und Wiedervereinigung mit dem britischen Mandatsgebiet 1972 vergingen trotzdem Jahrzehnte.

Trotz Unabhängigkeit kann der an sich rohstoffreiche Staat, in dem Gold, Uran, Kupfer und Kalk vorkommen ist, diesen Reichtum weiterhin nicht auf gleicher Augenhöhe mit der Weltwirtschaft verhandeln. Die externe Dominanz in Form wirtschaftlicher und militärische Geheimverträge französischer und anderer ehemaliger Kolonialstaaten mit insgesamt 30 afrikanischen Ländern befördert eine regelrechte Rohstoffausbeutung, die nicht selten unter Marktwert geschieht. So kommt es, dass wenige wirtschaftlich lohnende Perspektiven für junge Arbeitnehmer_innen bestehen. Weiterhin profitiert Frankreich über eine an den französischen Franc angelehnte Währung in Zentral- und Westafrika (CFA), welche den Französisch-Äquatorial-afrikanischen Franc aus der Kolonialzeit ablöste und laut Potago hohe Lizenzgebühren verlange. Eine echte Unabhängigkeit stehen somit die legalisierte europäische Rohstoffausbeutung und Landgrabbing asiatischer Staaten im Weg. Der junge Aktivist betonte in diesem Zusammenhang die zukünftige Bedeutung Afrikas für den Weltmarkt. Auf Grund der jungen Bevölkerung und steigender Bevölkerungszahlen stellt der Kontinent langfristig einen großen Abnehmer für Produkte und Dienstleistungen aus den USA, Frankreich, der EU und China dar. Nicht zuletzt aus diesem Grund unterstrich Potago die Forderung nach einer Behandlung auf Augenhöhe.

Armut, Konflikte und Korruption

Weiterhin fliehen viele Kameruner_innen auf Grund interner politischer Situation, welche von Korruption und Repression gekennzeichnet ist. Im Norden des Landes wütet die islamistische Terrororganisation Boko Haram. Politischer Wandel und Demokratisierung stehen Machtausbau sowie Selbstbereicherung von Seiten des seit 33 Jahren regierenden Präsidenten Paul Biya entgegen.

Geraud Potago beklagte. „Unsere Träume sind zerstört und unmöglich gemacht worden.“ Eine ganze Generation würde dadurch geopfert, sodass es nachvollziehbar sei, dass Möglichkeiten in anderen Ländern gesucht würden

Fluchtversuche an den Außengrenzen - EU duldet Völkerrechtsverletzungen

Zur Veranschaulichung des menschenverachtenden Umgangs mit afrikanischen Geflüchteten an der marokkanisch-spanischen Grenze zeigte der Aktivist einen kurzen Film. Zu sehen waren junge Männeraus ganz Afrika, die teils jahrelang in einem Waldstück nahe der Grenzstadt Melilla hausten, um über die martialisch hochgerüsteten Grenzzäune auf EU-Gebiet zu gelangen. Der Film bewies klar die völkerrechtlich illegale Vorgehensweise der Grenzschutztruppen, welche Menschen, die es nach Spanien geschafft hatten, wieder auf die marokkanische Seite brachten und dabei äußerst gewalttätig vorgingen. Potago lebte selbst mit den im Film gezeigten Männern und schaffte die Ausreise. Fotos seiner toten Freunde, die eben noch im Film sprachen, verdeutlichten unmittelbar die menschenverachtende Abschottungspolitik der EU, bei der allein Glück und Widerstandsfähigkeit über eine Einreise entscheiden. Bei medial verbreiteten Bildern gestrandeter Leichen an der griechischen Ägäis erweiterte sich das Bild flächendeckender Menschenabwehr durch Zäune und militärische Mittel an den europäischen Außengrenzen.

Blick nach Osten – warum Tschechien gegen eine Quotenregelung ist

Die am Beispiel afrikanischer Staaten verdeutlichte Misere geflüchteter Menschen stieß im Podium auf die Frage nach der Unnachgiebigkeit ostmitteleuropäischer Mitgliedstaaten. Silja Schultheis übernahm die schwierige Aufgabe, diese Blockadehaltung zu erläutern. So erklärte die Journalistin am Beispiel Tschechiens den Ärger über die Einschränkung des Territorialprinzips durch eine Quotenregelung. Freiwillig hat das Land bisher nur wenige Geflüchtete aufgenommen, weswegen auch durch Merkels Politik Angst vor einem unkontrollierten Zustrom geschürt wird. Der Tenor in Tschechien laute, dass Solidarität nicht verordnet werden könne. Schultheis berichtete, nach der Entscheidung auf dem EU-Sondergipfel im September, Flüchtlinge auch ohne Konsens zu verteilen, sei sogar die Rede von einem Brüsseler Diktat. Auf Nachfrage nach den Gründen schilderte die gebürtige Deutsche, die Länder der Visegrád-Gruppe fühlten sich selbst noch als Opfer der Vergangenheit. Durch den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber einigen westeuropäischen Staatensähen diese sich deshalb nicht in der Pflicht zu helfen, obwohl auch diese Staaten „ auf der besseren Seite der Welt“ lebten und einer Verpflichtung zur Hilfe nachkommen sollten.

Ein ähnlicher Abgrenzungsversuch wie in der deutschen Politik findet sich auch in Tschechien, indem die populistische Elite den Großteil der Geflüchteten als Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge degradiert und somit ein Bleiberecht abspricht. Schultheis konstatierte ein Fehlen langfristiger Konzepte sowie mangelnde Erfahrung mit Migration im ethnisch relativ homogenen Tschechien. So seien wie im Osten Deutschlands auch im Nachbarland neben entschlossenen Befürworter_innen populistische Bewegungen entstanden, die gegen eine drohende Islamisierung protestierten. Dabei herrsche vor allem Angst vor einer anderen Kultur und nicht vor Migration an sich, denn Tschechien hatte durchaus viele Flüchtlinge aus Ukraine aufgenommen. Schultheis forderte, man solle die Staaten besser abholen und beispielhaft vorangehen, um zu zeigen, wie erfolgreiche Integrationspolitik aussehen kann. Dabei betonte sie: „Eine Regelung per Scheck löst das Problem nicht, es braucht Überzeugungsarbeit.“ Ressourcen hierfür fänden sich beispielweise auch in Stimmen aus der tschechischen Wirtschaft , die mit Blick auf den demografischen Wandel offen für Einwanderung seien. Schultheis schloss, dass genau solche Debatten zukünftig noch stärker geführt werden müssten.

Dank der zahlreichen Fragen und regen Diskussionen konnte dieser Salon ein breites Spektrum an Aspekten erörtern, die Komplexität des Themas aufzeigen und konkrete Lösungsansätze diskutieren. Auf Grund der anhaltenden gesetzlichen und politischen Änderungen lohnt es sich, auf dem Laufenden zu bleiben.

 

 

Links und Literaturtipps

Migazin – Online-Magazin zur deutschen und europäischen Migrationspolitik

Afrique-Europe-Interact – internationale <Organisation zur Rettung Geflüchteter undThematisierung von Fluchtursachen

IZ3W – Informationszentrum „3. Welt“

Überarbeitete europäischen Migrationsagenda

Böll Stiftung – Dossier Flucht und Migration

Fazit des Migrationsgipfels von Malta 11.-13. November 2015

Angenendt, 2015: Ansätze für eine kohärente deutsche und europäische Flüchtlingspolitik

Keller, 2015: The Refugee Crisis and the EU

Helldorff, 2015: The EU Migration Dilemma

1 UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2014. IN: http://bit.ly/1RJkhai, S.2