Marginale Urbanität oder: Wie gehören Migration, Diversität und Stadtentwicklung zusammen?

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Historisch sind die Be- und Verarbeitung des Fremden in der Stadt, der Umgang mit „Differenz“, ein Kernelement des Städtischen. Städte haben immer davon gelebt, dass sie Migrant_Innen aufgenommen, spezielle Stadtteile für sie geschaffen und Formen für den Umgang mit dem „Fremden“ gefunden haben. Dieser Umgang erfolgte entweder in Form von Ausgrenzung: Den Migrant_Innen wurden besondere Orte in der Stadt zugewiesen, häufig übernahmen diese Orte für die Gesamtstadt die Rolle der ersten Eingliederung der Migrant_Innen. Dies ist bis heute so geblieben: gerade die schnell wachsenden Megacities in den Ländern des globalen Südens besitzen solche Stadtteile, meist sind es die Marginalsiedlungen am Stadtrand, die erster Aufnahmeort für die Migrant_Innen sind. Doch auch in den europäischen Städten gibt es solche Stadtteile, die besonders eng mit der Zuwanderungsgeschichte des jeweiligen Landes verknüpft sind und die teilweise die soziale und politische Ausgrenzung reproduzieren.
In diesem Beitrag geht es darum, die Dynamiken zwischen der verstärkten Diversität in den Städten im Kontext der Stadtentwicklungspolitik zu betrachten. Es wird argumentiert, dass sich ein Trend weg von einer „urbanen Marginalität“, in der Migration und Migrant_Innen vornehmlich als „Problem“ konzipiert wurden, hin zu „marginaler Urbanität“ vollzieht, die Vielfalt und Diversität als positive Ansatzpunkte für Stadtentwicklung ansieht. Verändert haben sich nicht nur die Stadtgesellschaften selbst (beispielsweise durch die demographische Komposition der Bevölkerung, durch stärkere soziale und ökonomische Ungleichheiten zwischen den Stadtbewohner_Innen, durch neue Geschlechterarrangements). Auch unsere Vorstellungen von Urbanität haben sich verändert. In welcher Form sind Migrant_Innen Teil von Stadtentwicklung? Vorgestellt wird zunächst die Periode der „urbanen Marginalität“, die zur Herausbildung neuer Stadtentwicklungspolitiken, vornehmlich partizipativer Ansätze, führte. Dann wird gezeigt, wie sich die Großstädte in Deutschland gewandelt haben und wie bedeutsam hierfür die Rolle von migrantischen Ökonomien gewesen ist. Sie sind weit mehr als ein „Standortfaktor“ für die Großstädte – Migrant_Innen stellen in einigen Städten heute die Mehrheit der Gewerbean- und abmeldungen. Sie sind Teil der Umstellung der städtischen Arbeitsmärkte hin zu postindustriellen, europäisierten Formen der Arbeitsmarktintegration, die die Städte zunehmend prägt und die einen veränderten Umgang mit Mobilität und Migration provozieren.

 

Urbane Marginalität

Die Wirtschaftsgeschichte Westdeutschlands seit der Nachkriegszeit ist eng mit der Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem Ausland verbunden. Seit 1955 hatte die deutsche Wirtschaft angefangen, Arbeitskräfte zunächst aus Italien zur landwirtschaftlichen Saisonarbeit nach Deutschland zu holen, ab Anfang der 1960er Jahre geschah dies massenhaft für die Industriearbeitsplätze. Die Unterbringung der sogenannten Gastarbeiter_Innen (ganz überwiegend aus Südeuropa) in den Städten war genauso provisorisch wie ihr Aufenthaltsstatus. Anfangs lebten sie in Sammelunterkünften. Sie waren Teil der Arbeitswelt, nicht aber Teil der Stadt. Auch im politischen Raum durchlebten die Gastarbeiter_Innen eine Zeit der „Integration auf Widerruf“, so lautete die ausländerpolitische Leitlinie der Bundesregierung im Jahre 1974. Zeitgleich mit dem Anwerbestopp 1973, erfolgte eine gewisse Stabilisierung der provisorischen Aufenthaltssituation. Viele, die vielleicht zurück in ihr Herkunftsland gegangen wären, blieben nun lieber in Deutschland – man konnte ja nicht sicher sein, nochmals eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Familienmitglieder wurden nachgeholt.

Die „Ausländer_Innen“ zogen in billige, fabriknahe Wohnungen oder in Sanierungsgebiete in der Innenstadt. Nicht wenige Vermieter_Innen nutzten diese Situation aus: Sie vermieteten ihre Wohnungen an die Ausländer_Innen, ließen die Wohnungen verfallen und bekamen so die angestrebte Abbruchgenehmigung, mit der sie rentablere Bürogebäude errichten konnten. In einigen Städten entstand so etwas wie „Einwandererkolonien“, denen eine doppelte Funktion zukam: Für Neuankömmlinge wirkten sie als Integrationsschleuse in die neue Gesellschaft und gleichzeitig als Ort der Orientierung und des Halts in der Herkunftskultur.

Die Wahrnehmung der Ausländer_Innen durch Öffentlichkeit, Planung und Sozialpolitiker_Innen blieb insgesamt auf die defizitorientierte Seite der Migration fokussiert. Es war lange kein Platz für eine Wahrnehmung von Migrant_Innen als eigenständige Akteur_Innen, vielmehr blieben sie auf die Zuschauerränge am Rande der Stadtgesellschaft verwiesen. Diese polarisierte Entwicklung bildete den Ausgangspunkt für eine stadtsoziologische Analyse, die mehr oder weniger explizit auf den angelsächsischen Diskurs über ‚urbane Marginalität‘ rekurrierte und ihn für die deutsche Debatte fruchtbar machte.

Ein wichtiger Impulsgeber für die Analyse der Situation in den deutschen Städten war das angelsächsische stadtsoziologische Konzept „urban marginality“. Damit wurde die zunehmende Peripherisierung und Stigmatisierung armer Nachbarschaften beschrieben, die in der Folge unter eine Verwaltung der Segregation und Integration gerieten. Diese Segregation wirkte sozial kontrollierend mit dem Ziel die wohlhabenden Klassen zu schützen.

Die Massenproduktion und der Massenkonsum der Nachkriegszeit waren an die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates gekoppelt und mit dem Ende dieses Regimes zogen auch neue Formen der Armut in die Städte ein, bestimmte Stadtbezirke und ihre Bevölkerung, so nahm man an, würden isoliert, eine neue Ghettoisierung sei zu beobachten. Für diese Armut würden neue Etiketten benutzt: „Underclass“ in Amerika und England, „Neue Armut“ in den Niederlanden, Deutschland und Norditalien, „Exklusion“ in Frankreich. Staaten funktionierten nicht mehr als „Stratifikationsmaschinen“, die räumliche Entwicklung war jetzt stärker geprägt von Konzentration und Stigmatisierung. Europaweit wurde mit einer zwiespältigen Kombination sozialarbeitsorientierten Ansätzen und repressiven, polizeilichen Maßnahmen reagiert. Die Herausbildung von marginalen öffentlichen Räumen wurde in Verbindung gesetzt mit den sich in den 1990er Jahren verstärkt abzeichnenden sozialen, ethnischen und kulturellen Unterschieden. Sie traten nun auf engstem Raum auf und betrafen bereits ‚schwierige‘ Stadtteile am stärksten. Viele Stadtsoziolog_Innen gingen davon aus, dass nicht nur die Lebenschancen der Bewohner_Innen durch die Segregation behindert werden würden, sondern dass es auch zu einer Abnahme des sozialen Zusammenhalts käme, dass immer mehr Menschen an die „Ränder der Städte“ rücken würden. Vielerorts in Europa schwenkte die Stadtpolitik jetzt auf „area-based“ orientierte Handlungsansätze um. Die Stadtpolitiker_Innen erkannten, dass sich die Strukturkrise an den Arbeitsmärkten kaum beeinflussen ließ, dass man aber versuchen könnte, vor Ort neue Instrumente gegen die vermutete „Abwärtsspirale“ einzusetzen. Damit rückte das Quartier in den Mittelpunkt der Maßnahmen und man hoffte durch die Aktivierung der Bewohner_Innen auf eine gewisse Stabilisierung der Lebenssituation vor Ort.

Verschiedene Stadtentwicklungsprogramme reagierten durch sozialräumliche, quartiersbezogene Ansätze und Befähigung (empowerment). Eine gewisse Kompensation der Marginalisierung sollte durch Kontaktangebote, durch Unterstützungsnetzwerke und durch über das Quartiersmanagement organisierte Gremien erreicht werden. Schließlich wurden Monitoring und Evaluation der durchgeführten Maßnahmen und Projekte zunehmend Teil der Stadtentwicklung. Durch die Einführung des Programms der „Sozialen Stadt“ (einem Teil der Städtebauförderung) richteten sich viele Stadtentwicklungsaktivitäten auf die ‚benachteiligten Stadtteile‘ aus. Man bezog erstmals auch dezidiert Migrant_Innen in die Maßnahmen ein, vor allem auch die migrantischen Ökonomien.

Hin zu einer „marginalen Urbanität“

Heute gehört die Präsenz der migrantischen Ökonomien zum Bild aller deutschen Großstädte. Trotz vieler Schwierigkeiten und der häufig prekären Situation der Unternehmer_Innen, ist das migrantische Unternehmertum inzwischen in vielen Städten fester Bestandteil der Ökonomie und der Urbanität geworden, die Gewerbean- und abmeldungen stellen zum Beispiel für die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg die Mehrheit aller Meldungen dar. Häufig sind die Unternehmer_Innen Ansprechpartner_Innen für Institutionen und tragen insgesamt zu einer Stabilisierung der Stadtteile bei. Nur so lässt sich das starke Interesse verschiedener Träger wie dem SVR (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration) („Wirtschaftliche Selbständigkeit als Integrationsstrategie“) oder aber der vielen Studien zur „Standortentwicklung“ verstehen. Man erhofft sich von den migrantischen Ökonomien, dass sie die bessere Hinzuziehung ihrer Potenziale die Wirtschaftsstruktur allgemein, aber auch die Ausbildungssituation, stärken könnten. Hier wirkt ein Umgang mit dem „Fremden/dem Anderen“ fort, der typisch ist für den Umgang mit dem „Fremden“ in Deutschland: Das Andere wird jeweils dann akzeptiert, wenn es eine ökonomische Verwertungslogik gibt. Das  „Ethnische“, das „Migrantische“ wird zum Vermarktungsfaktor in der Stadtentwicklung, wenn es irgendwie erfolgreich ist. Ein solches „Erfolgreich-Sein“ kann sich sogar nur auf die Oberfläche der migrantischen Unternehmen beziehen: Für das Stadtmarketing reichen die bunten Fassaden, die Kreuzberg und Neukölln für Tourist_Innen interessant machen. Hierin liegt ein der Stadt Berlin eigenes Potential der Urbanität („arm aber sexy. Bunt“) In einigen europäischen Städten, beispielsweise in London mit seiner Brick Lane oder aber in Amsterdam hat sich ein solches Image um die von migrantischen Ökonomien geprägten Stadtteile gebildet, das „place brandings“, einem stadtpolitischen Instrument in new urban governance Manier. Festivals und Paraden sind in diesen Städten ein weiterer Berührungspunkt von Migration und Stadtentwicklung und sorgen dafür, dass auch die Stadtteile multikulturell zelebriert werden und leiten eine Kommerzialisierung ein, die mittlerweile schon wieder kontraproduktiv wirkt. Der „Karneval der Kulturen“ in Berlin ist ein Massenevent, das auch in diesem Jahr mit einem Umzug und 76 teilnehmenden Gruppen wohl die größte Parade ihrer Art in Deutschland ist. Was in anderen Städten erst nach und nach übernommen wird, leidet in Berlin unter Verschleißerscheinungen. In diesem Jahr haben verschiedene Gruppen, darunter die afro-brasilianische Gruppe Afoxé Loni, die traditionell an der Spitze des Zuges läuft, ihre zukünftige Teilnahme in Frage gestellt. In der entsprechenden Pressemitteilung heißt es, dass die Hochkultur mit Millionenbeträgen gefördert würde, dass jedoch die migrantische Kultur als „minderwertige Folklore“ abgetan werde und keinerlei Förderung erhalte. Seit 18 Jahren engagierten sich die Migrant_Innen ehrenamtlich, viele könnten sich dies nicht länger leisten. Es handele sich deshalb um eine „Kulturpolitik der Missachtung, Instrumentalisierung und Ausbeutung von kultureller Vielfalt“ – so die Initiator_Innen. Es gibt daneben aber auch kleinere Veranstaltungen, wie beispielsweise das seit circa zehn Jahren laufende „48-Stunden Neukölln“, bei denen man sich von stadtpolitischer Seite aktiv um eine Einbeziehung von Migrant_Innen bemüht und die genauso auf dem Selbstausbeutungsprinzip beruhen. Dies wird von den beteiligten Akteur_Innen durchaus kritisch gesehen, denn man weiß, dass die Gefahr besteht, dass man gerade die schon prekär situierten Migrant_Innen und Künstler_Innen in gewisser Weise ‚ausnutzt‘ – entweder persönlich oder als Begründung für den Anspruch auf mehr Stadtentwicklungsgelder.

Fazit

Wahrscheinlich ergibt es mehr Sinn, von einer „marginalen Urbanität“  anstatt von „urbaner Marginalität“ in Städten wie Berlin auszugehen – ohne damit vorhandene strukturelle Ungleichgewichte beschönigen zu wollen. Gemeint ist, dass die Migrant_Innen (und Mobilität überhaupt) einen stärkeren Stellenwert für die städtische Entwicklung besitzen, als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Die Betonung von „Potentialen“ im Zuge der politisch gewünschten Diversitätsdebatte richtet sich viel weniger als noch in den 1990er Jahren nur auf die Defizite, auf die Stabilisierung von sozialen Brennpunkten oder auf Fragen des Moscheebaus, sondern versucht Migrant_Innen stärker einzubinden. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass die „Menschen mit Migrationshintergrund“ in einigen Städten in den jungen Alterskohorten bereits die Mehrheitsbevölkerung stellen, sondern auch weil die Wahrnehmung sich allmählich verändert: Die Präsenz von migrantischen Kulturen im Stadtraum gilt immer öfter als „normal“ und es wird nicht mehr nur mit „Exotik“ oder „Problemen“ assoziiert. Und doch bleiben die Leistungen und Innovationen durch die migrantische Bevölkerung im Bewusstsein vieler Stadtbewohner_Innen noch ‚marginal‘ und sind auch noch nicht selbstverständlicher Teil von Stadtentwicklung.

Einen großen Beitrag zur dieser „Normalisierung“ hat die eingeleitete Sozialraumorientierung anstelle einer defizitorientierten sektoralen Stadtpolitik geleistet. Erstmals wurden Migrant_Innen hier nicht mehr nur mit ‚Maßnahmen‘ quasi beliefert. Die Kiezbewohner_Innen selbst sollten ihre Kräfte und Vernetzungen aktivieren, auch Paraden und Festivals basierten auf der starken Präsenz von migrantischen Gruppen – undenkbar ist zum Beispiel ein Karneval der Kulturen in Zehlendorf. Städte mit traditionell starken Einwanderervierteln wie London und Amsterdam bewerben ihre „ethnischen Distrikte“ bereits, sie konzentrieren Teile ihres Stadtmarketings auf diese Gebiete.

Gerade auch die migrantische Selbstständigkeit ist ein wichtiger Teil der atypischen Beschäftigungsverhältnisse in den Städten – was entweder als Ausdruck einer Notlösung angesichts fehlender Möglichkeiten der Menschen am Arbeitsmarkt interpretiert werden kann oder aber als Potential im Sinne einer von den Migrant_Innen selbst gestalteten Existenzsicherung. Der springende Punkt ist, dass sie ein dynamisches Element der städtischen Entwicklung darstellen.

Auch wenn Migration und Mobilität im Sinne einer „marginalen Urbanität“ die Städte immer stärker prägen, bleiben viele Fragen offen: Wie geht man damit um, dass auch transitäre Formen von Mobilität, deren Träger den bewohnten Raum nicht zwangsläufig als steten Aufenthaltsort ansehen, großen Einfluss gewinnen?

Wie sich eine Stadtentwicklung unter Einbeziehung auch migrantischer und transitärer Bewohner_Innen erreichen lässt, dies ist bislang noch Zukunftsmusik. Denn der zugestandene Grad der Einmischung und Partizipation der Stadtbewohner_Innen, ganz unabhängig davon, ob sie Migrant_Innen sind oder nicht, rührt am Grundverständnis der demokratischen Gesellschaften, er erfordert eine breiter angelegte Debatte über Partizipation und urban citizenship.

Zum Weiterlesen & Anschauen & Hören:

Hillmann, Felicitas (Hg.) (2011): Marginale Urbanität. Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung. Transcript Verlag. Bielefeld

Hillmann, Felicitas (2012): Wie gehören Stadtentwicklung, Diversität und Migration zusammen?, zuletzt gesehen am 12.8.2013.

Hillmann, Felicitas (2013): “From urban marginality towards marginal urbanity”, Max-Planck Lecture online, zuletzt gesehen am 12.8.2013.