Die inklusive Gemeinde: Eine Vision für gelingendes Leben vor Ort

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Über Inklusion nachzudenken ist sehr aktuell. Wer jüngst im DM-Drogeriemarkt war und sich die dortige Kundenzeitschrift angeschaut hat, der konnte feststellen, dass in der Juli-Nummer 2012 ein Beitrag zum Thema Inklusion zu finden war. Dort wird auch eine Definition gegeben, die aus meiner Sicht recht gut ist. Denn auf die Frage: "Was ist Inklusion?" antworteten die Redakteure:

"Der Begriff (lat. includere = Einbeziehen) wird in Abgrenzung zum Begriff Integration benutzt. Während Integration bedeutet, Menschen nachträglich einzugliedern, geht es bei Inklusion darum, die Gesellschaft von Anfang an so zu gestalten, dass jeder Mensch gleichberechtigt an allen Abläufen teilhaben und sie mitgestalten kann - unabhängig von individuellen Fähigkeiten, ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter."

Bei der Vorbereitung des Referates haben mich Leute aus einer Kommunalverwaltung gefragt, wie ich Inklusion verstehe. Im Moment gehe ich von folgendem Verständnis von Inklusion aus:

Inklusion bedeutet das Zusammensein und das gegenseitige Akzeptieren aller Menschen in einem konkreten Lebensraum. Inklusion hat auch eine aktive Seite: Öffentliche und private Institutionen sorgen für einen Raum der Möglichkeiten, dass Inklusion praktisch stattfinden kann. Bürgerinnen und Bürger unterstützen sich wechselseitig je nach ihren Kräften und Gelegenheiten.

Ich hebe auf den konkreten Lebensraum ab, weil wir sonst keine angemessenen planungsrelevanten Aussagen machen können. Denn gelingendes Leben vor Ort ist auch das Ergebnis einer guten Sozialplanung. Aber dies werde ich später noch erläutern.

Eines ist gewiss: Seit dem die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) bei uns in der Bundesrepublik zum Gesetz geworden ist, ist die Inklusionsdebatte auf allen Ebenen sehr viel umfangreicher geworden. Deshalb ist es notwendig, sich mit der Behindertenrechtskonvention etwas näher zu befassen. Mir ist aufgefallen, dass viele über diese Behindertenrechtskonvention reden, aber wenige haben sie wirklich gelesen.

Die Behindertenrechtskonvention heißt im Klartext "Übereinkommen der Vereinigten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen".

Im Artikel 1 wird der Zweck der BRK beschrieben: "Zweck dieses Übereinkommens ist es , den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können."

In der BRK werden insgesamt 15 Arbeitsfelder aufgerufen; diese Arbeitsfelder sind:

  • Hilfen im Vorschulalter - Frühförderung
  • Elementare Bildung und Erziehung - Kindertageseinrichtungen
  • Schulische Bildung und Erziehung
  • Allgemeine Bildung
  • Zugänglichkeit
  • Persönliche Mobilität
  • Gesundheit
  • Arbeit und Beschäftigung
  • Wohnen und Unterstützung im Alltag
  • Ältere und alte Menschen mit Behinderungen
  • Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben
  • Teilhabe am kulturellen Leben, sowie Erholung, Freizeit und Sport
  • Habilitation und Rehabilitation
  • Planung und Steuerung von Hilfen für Menschen mit Behinderungen
  • Monitoring und Evaluation

Vor allen Dingen im schulischen Bereich wird eine sehr heftige Auseinandersetzung geführt, was Inklusion praktisch bedeuten soll. Die Auseinandersetzung dort ist aber wichtig für die anderen Inklusionsbereiche, deshalb will ich kurz auf Positionen im Bereich schulischer Inklusion eingehen.

In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise wird anlässlich eines „Inklusionskongresses des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (05.05.2012) unterschieden zwischen einer Position der "Radikalen Inklusion" und einer Position der "Gemäßigten Inklusion".

So war es bemerkenswert, dass der dortige Kultusminister einen Beitrag verfasste mit dem Thema: "Warum Inklusion unmöglich ist". Er verweist auf radikale Positionen, die davon ausgehen, dass im Prinzip jedes Kind im Regelunterricht beschult werden könne. Diese Position bezeichnet er als "Inklusion ist Kommunismus für die Schule"[1].

In diesem Zusammenhang verwies er auf einen klassischen Satz, den sie vielleicht kennen: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"

Dieser Satz stammt von niemandem geringeren als dem Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus. Er hat diesen in der Kritik des Gothaer Programms formuliert. Der Bildungsminister argumentierte dann, "Marx ist einer der ersten und wichtigsten Inklusionstheoretiker überhaupt". Der Minister differenziert seine Aussage im Verlauf dieses Vortrages und kommt dann eben zu dieser generellen Einschätzung, dass Inklusion Kommunismus für die Schule sei.

In dem Text wurde auch betont, dass es sich bei der UN lediglich um eine Behörde handle; und dass die UN-Behindertenrechtskonvention eher als „Ukas“[2] zu betrachten sei, die politisch nur eine sehr eingeschränkte Reichweite haben könnte, weil ihre Formulierung ja ohne demokratische Grundlagen zustande gekommen sei. Daran würde auch nicht ändern, dass die UN-Behindertenrechtskonvention bei uns inzwischen Gesetz geworden sei.

Gegenüber dieser radikalen Position gibt es inzwischen aber auch bundesweit eine realistische Position. Anhängerinnen und Anhänger formulieren dann entsprechende Leitsätze wie folgt:

- Schaut bei Inklusion auf die vorhandenen Ressourcen und auf die Implementationsbedingungen; denn wir können aus finanziellen und aus inhaltlichen Gründen zur Zeit nicht alles umsetzen, was die BRK will.

- Schaut auf die parlamentarischen Entscheidungen vor Ort und in der Region und im Land, denn dort werden die parlamentarisch fixierten Grenzen gesetzt, unter deren Beachtung Inklusion praktisch stattfinden kann.

- Schaut auf die konkreten Lebensräume und auf die Menschen, die dort wohnen; das betrifft v. a. zivilgesellschaftliche Möglichkeiten. Was nützt das beste Gerede von Inklusion, wenn die Menschen vor Ort dieses im Moment nicht verwirklichen können?

Unabhängig davon, was über die BRK in den letzten Jahren an Handlungsdruck erzeugt worden ist, ist es aber wichtig, dass man auf Rahmenbedingungen schaut, die ich als sozialökologische Entwicklung bezeichne.

Was ist mit sozialökologischer  Entwicklung gemeint?

Wenn man die folgenden fünf Entwicklungslinien beachtet, dann wird deutlich, dass es kein Zufall ist, dass wir uns im aktuellen historischen Kontext mit der BRK auseinandersetzen müssen.

In den westlichen Gesellschaften geht es im Prinzip um die Thematisierung des Humanen in einem strukturellen Konflikt. Einerseits gibt es die bekannten Strategien der "Fabrikation des zuverlässigen Menschen" für den Markt. Andererseits gibt es die Versuche der Selbstbestimmung des Menschen als Organisator seines eigenen Lebensglücks. Und das Individuum ist hin- und hergezogen in diesem Spannungsfeld. Wenn man es pointiert ausdrücken will: Die BRK steht auf der Seite des individuellen Lebensglücks für jeden Menschen, also auch für behinderte Menschen. In diesem sozialökologischen Kontext gehören:

- Die Aufforderung zur Entwicklung eines anderen Wachstumsmodells. Wir sollen nicht immer Wachstum über den Indikator „Bruttosozialprodukt“ messen, sondern auch ökologische und soziale Indikatoren ins Spiel bringen.[3] Ich glaube, ich muss das nicht vertiefen, jeder und jede wird wissen, um was es sich handelt.

- In die sozialökologische Dynamik gehört auch der wachsende weltweite Partizipationswille der Bürgerinnen und Bürger, der oft als "Graswurzelrevolution" bezeichnet wird.

- In den Kontext der sozialökologischen Dynamik gehört auch der Einfluss der amerikanischen Frauenbewegung auf die Gestaltung der Sozialen Arbeit und auf die Sozialplanung. Das sind Zusammenhänge, die unter dem Stichwort „Take Care“ und „Ethik der Achtsamkeit“ verhandelt werden. Entsprechende Überlegungen haben u. a. Einfluss genommen auf die Pflegewissenschaft und auf Führungskräfteentwicklung.[4] Hier geht es auch darum, dass wir Pflegebedürftige nicht wie Gegenstände behandeln dürfen, die über ein „Pflegefließband“ transportiert werden. Wir sind aufgefordert, achtsam mit ihren Bedürfnissen umzugehen und sie menschenfreundlich zu behandeln.

- In die sozialökologische Bewegung gehört auch die Durchsetzung des Prinzips der Sozialraumorientierung in der Sozialarbeit. Sozialraumorientierung wird doppelt bezogen definiert; einerseits geht es um die Ressourcen, die im privaten Bereich liegen und die zur Lösung von Problemen aktiviert werden können. Andererseits geht es um öffentliche Ressourcen. Zur Lösung von sozialen Problemen sollen möglichst auch die Ressourcen und Angebote genutzt werden, die im unmittelbaren Lebensraum der Hilfesuchenden zu aktivieren sind. [5]

-  Schließlich gehört in den Kontext sozialökologischer Orientierung auch der Versuch, eine "menschenfreundliche" Architektur zu gestalten. Hier gibt es seit Jahren Überlegungen im Sinne einer Mustersprache, die von Christopher Alexander und anderen entwickelt wurde: Es geht darum, Architektur und Stadt so zu gestalten, dass Menschen sich dort wohl und sicher fühlen können. Dafür ein kleines Beispiel: Grenzen zwischen Land und Wasser im städtebaulichen Kontext sollten so geplant werden, dass Kinder mit ihren Füßen langsam ins Wasser spazieren können.  So können Unfälle in Grünanlagen vermieden werden, weil die Umweltgestaltung auf die kindlichen Nutzungsmöglichkeiten Rücksicht nimmt. [6]  

Ich hatte am Beginn schon betont, dass sich Inklusion vor allen Dingen im konkreten Lebensraum der betroffenen Menschen zu bewähren hat. Ich schlage deshalb vor, dass wir generelle Aspekte eines Lebensraums etwas näher anschauen. Dies soll anhand der folgenden Grafik geschehen.  Dort sind wichtige Lebensraumsegmente gekennzeichnet (1-10). Wenn die einzelnen Segmente nicht so gestaltet sind, dass ich Menschen wohl und sicher fühlen können, gibt es Einengungen im Lebensraum. Das wird durch die äußeren Pfeile visualisiert. Man kann in diesem Zusammenhang von „Exklusion“ sprechen. Ziel wäre nun bei entsprechender Ausgangslage Kräfte gegen Exklusion zu entwickeln, damit der Lebensraum größer – also nicht einengend – werden kann. Auf diese Weise wird gelingenden Leben vor Ort ermöglicht.

 

Im PDF auf Seite 5 Abbildung 1: Dynamik der Teilhabe. Sie ist ein Wechselspiel mit 1) Wohnen 2) Dienstleistungen 3) Mobilität und Zugänglichkeit 4) Sicherheit vor Ort 5) Kulturelle Angebote 6) Familiales Netzwerk 7) Zivilgesellschaftliches Netzwerk 8) Unterhalt "Ohne Moos nix los".

Wir können nun diese einzelnen Segmente nicht durchgehen bezogen auf den Nachweis exkludierender Bedingungen und bezogen auf die Planung von inklusiven Maßnahmen. Das wäre die Aufgabe einer örtlichen Teilhabeplanung, wie diese von Kommunen zu entwickeln ist. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass eine örtliche Teilhabeplanung deshalb in den Verantwortungsbereich der Kommune fällt, weil diese nach der jeweiligen Gemeindeordnung in besonderer Weise verpflichtet ist, sich um das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger zu kümmern. Man muss die Verantwortung der Gemeinde deutlich unterscheiden von der Verantwortung eines "örtlichen Trägers der Sozialhilfe", das wäre in der Regel der Landkreis, wenn die Stadt nicht gleichzeitig örtlicher Träger der Sozialhilfe ist.

Die Sache mit der örtlichen Teilhabeplanung ist ein kompliziertes Feld. Weil man ja unterschiedliche relevante Politikebenen und damit Planungsebenen miteinander sinnvoll verknüpfen muss. Nämlich:

- Gemeindeverantwortung

- Verantwortung des Landkreises

- Verantwortung der Region

- Verantwortung des Landes.

An dieser Stelle sei ein Modell für Inklusionsplanung aus Weilheim-Schongau im Bezirk Oberbayern gezeigt, aus dem deutlich wird, wie gewaltig die Aufgabe ist, die auf der Ebene einer entsprechend integrierten Sozialplanung zu bewältigen ist. [7]

Im PDF auf Seite 6 die Abbildung 2: Struktur der Teilhabeplanung: Die Teilhabe- oder Inklusionsplanung in Kommunen von Oberbayern besteht aus einem Teilhaberat. In dem Teilhaberat kommen zusammen: Selbstvertretung (aus Behindertenbeirat), Selbsthilfebüro, Gemeinden, Politik (Fraktionen), Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Bezirk Oberbayern, Weitere Reha-Träger (z.B. Agentur für Arbeit), weitere Akteure (z.B. Schulen, öffentliche Einrichtungen), Landkreise und ihre Ämter.
Von Seiten der Ämter sind zum Beispiel dabei Jugendhilfeplanung, Schulentwicklungsplanung, Demographie Management, Gesundheitsamt, Bauplanung, ÖPNV-Planung, weitere Bereiche kommunaler Planung und regionaler Management dabei.

Auf der anderen Seite sind Ansprechpartner_Innen in den Gemeinden, Beiräte in Einrichtungen, die Schwerbehinderten-Vertretungen sowie Steuerungsverbünde zu psychischer Gesundheit und Behindertenhilfe dabei.

Es gibt inzwischen Handbücher, mit deren Hilfe Kommunen die Qualität von Inklusion vor Ort beurteilen können.[8]

In dem zitierten Werk wird eine andere Lebensraum-Modellierung benutzt, um gelingendes Leben vor  Ort erörtern zu können. Anhand von 477 Fragen wird über folgende Gesichtspunkte gearbeitet (in Klammern steht jeweils die Anzahl der Fragen, die relevant sind):

  • Inklusive Werte (13)
  • Wohnen und Versorgung (10)
  • Wohlbefinden und Gemeinschaft (11)
  • Mobilität und Transport (11)
  • Barrierefreiheit (8)
  • Umwelt und Energie (9)
  • Bildung und lebenslanges Lernen (15)
  • Arbeit und Beschäftigung (12)
  • Kultur und Freizeit (12)
  • Beteiligung und Mitsprache (16)

Wir müssen uns nun nicht alle Fragen anschauen. Deutlich soll hier nur das Prinzip werden. Deshalb gebe ich nur die Fragen zu den Gesichtspunkten von "Wohnen und Versorgung" wieder.

(1) Gibt es speziell für junge Menschen Zugang zu öffentlichen Plätzen und Räumen, die sie als Treffpunkte und zum selbstbestimmten Zeitvertreib nutzen können?

(2) Gibt es Unterstützungsangebote für Menschen, die wichtige Dinge des täglichen Bedarfs nicht eigenständig erledigen können?

(3) Gibt es überall Zugang zur ärztlichen Versorgung?

(4) Gibt es mobile Versorgungsangebote in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten?

(5) Gibt es ausreichend Zugang zu öffentlichen Parks, Grünflächen und Sportflächen etc. ?

(6) Ist es für alle selbstverständlich, Wohnungslose als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft anzuerkennen?

(7) Sind überall Geschäfte für die tägliche Versorgung schnell erreichbar (Lebensmittel, Apotheken, Banken, Kleidung)?

(8) Gibt es öffentlich zugängliche Toiletten, die für alle gut erreichbar, sicher und in einem ordentlichen Zustand sind?

(9) Gibt es Unterstützungsangebote für Menschen mit spezifischem Bedarf adäquaten und bezahlbaren Wohnraum zu finden?

(10) Gibt es für alle Menschen adäquaten und bezahlbaren Wohnraum?

Wir sehen hier, dass ein Prinzip des "Design für Alle" Wirkung zeigt. Wenn diese Prinzipien beachtet werden, dann entsteht langsam auch für behinderte Menschen eine inklusive Wirklichkeit. Ein Kerngedanke des Prinzips „Design für alle“ ist der Satz: „Was für Behinderte gut ist, das ist auch für alte Menschen gut. Was für Behinderte und Alte gut ist, das ist auch für uns alle gut.“

Wenn man jetzt einen besonderen Schwerpunkt berücksichtigen wollte, der für die Behindertenhilfe aber  auch für die Altenhilfe im Sinne der BRK relevant wäre, dann wird man dort unter dem Artikel 19: "Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft" folgenden Satz finden: "Menschen mit Behinderungen soll gewährleistet sein, dass sie gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben."

Die Schaffung entsprechender Wohnangebote ist Gegenstand vieler kommunaler Teilhabepläne. Ziele sind:  Ambulantisierung, Normalisierung und Rückführung. Man wird unterscheiden müssen zwischen lebensraumfernen und lebensraumnahen Angeboten. Das entsprechende Dilemma könnte man anhand der folgenden Grafik verdeutlichen:

Im PDF auf Seite 8 die Abbildung 3: Strategische Weichenstellung: Ausgangspunkt bei der strategischen Weichenstellung ist die Lebenslage der Betroffenen. Zur Analyse der Lebenslage gehören mögliche Probleme im Lebensraum, welche unmittelbaren Bedarfe bestehen und welche lebensraumferne und/oder -nahe Unterstützung erforderlich sind. Gegebenenfalls braucht es einen sogenannten Wohlfahrtsmix aus unterschiedlichen Unterstützungsfomen. Des Weiteren gehört die Analyse der institutionellen Möglichkeiten dazu.
Die strategische Weichenstellung setzt die Beteiligung der Betroffenen voraus, um eine örtliche Teilhabeplanung zu entwickeln. 

Diese Abbildung soll deutlich machen, dass die Beteiligung betroffener behinderter Menschen bei „Örtlicher Teilhabeplanung“ von entscheidender Bedeutung ist. Denn nur so wird man zu bedarfsgerechten Angeboten kommen.  Viele Angebote folgen immer noch einer „Strategie der Besonderung“. Das bedeutet oft, dass lebensferne Unterstützungsangebote gemacht werden.

Das meint übrigens der Satz des Psychiaters  Klaus Dörner: „Heimträger sind Geiselnehmer“.[9]

Wenn man die betroffenen Männer und Frauen fragt – und das in einfacher Sprache – werden sie überwiegend eine lebensraumnahe Unterstützung wollen. Insofern ist Betroffenenbeteiligung bei örtlicher Teilhabeplanung eine strategische Weiche in Richtung auf Normalisierung von Unterstützungsangeboten.  Dieser Sachverhalt wird übrigens auch aufgrund planungsmethodologischer Überlegungen plausibel. Aber davon später.

Im Zusammenhang mit konkreten inklusiven Planungen wird immer die Frage gestellt: "Kommt nun mehr Geld in die öffentlichen Kassen?" Ich denke, wir werden davon ausgehen müssen, dass die entsprechenden Zuweisungen für die öffentlichen Kassen nicht deutlich erhöht werden. Aber man wird mit dem vorhandenen Geld intelligenter umgehen müssen.

Warum verweise ich auf diesen Zusammenhang? Ich denke, es geht vor allem um die Entwicklung neuer mentaler Modelle. An dieser Stelle empfiehlt sich ein Exkurs zum Thema "Methodologie der Planung." Oder anders ausgedrückt: Unter welchen Voraussetzungen kann Planung - und damit auch Sozialplanung - generell gelingen?

Es geht um die Lösung "wilder Probleme".

Sozialplanung beschäftigt sich in der Regel nicht mit sogenannten zahmen Problemen.

Diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung.

Zahme Probleme lassen sich regelmäßig über eine gute Planung bearbeiten, weil in der Praxis einfache Ursache-Wirkungs-Ketten nachweisbar sind und auch bewährte Lösungsinstrumente zur Verfügung stehen.  Sozialplanung bearbeitet in der Regel „wilde Probleme“. Dafür gibt es die folgenden Merkmale[10]:

(1) Ein wildes Problem lässt sich am Beginn des Versuches seiner Zähmung nicht vollständig und definitiv beschreiben.

(2) Man weiß oft nicht genau, wann ein wildes Problem gezähmt, d.h. gelöst ist. Es gibt dann nur vorläufige Lösungen - also Lösungen vom Typ einer Zwischenlösung.

(3) Jedes wilde Problem kann als ein Symptom eines höheren wilden Problems bezeichnet werden.
Es gibt also Abhängigkeiten im Sinne von: das Problem im Problem im Problem... (Das ist wie mit einer russischen Puppe...).

(4) Die Beschreibung eines wilden Problems ist abhängig von der Werthaltung des Problembeschreibers. Unterschiedliche Problembeschreiber liefern je unterschiedliche Beschreibungen sowohl vom „IST“ als auch vom „SOLL“.

(5) Die Lösung („Zähmung“).eines wilden Problems ist nie eindeutig richtig oder falsch. Es gibt häufig „strategische Wahrheiten“ bei der Zähmung wilder  Probleme.

(6) Jedes wilde Problem ist im Prinzip einzigartig. Die Lösung für das eine wilde Problem lässt sich nur sehr begrenzt übertragen auf die Lösung eines anderen wilden Problems. Insofern herrscht das Prinzip der "lokalen Richtigkeit".

(7) Wenn man nicht aufpasst, gerät man bei der Lösung wilder Probleme in einen "Teufelskreislauf", aus dem man sich oft nur schwer befreien kann.

(8) Die Folgen der Zähmung eines wilden Problems sind oft irreversibel. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr, den Zustand vor dem Lösungsversuch zu rekonstruieren.

(9) Die Konsequenzen bei der Zähmung wilder Probleme müssen in der Regel die Betroffenen aushalten. Sie sind dann die Leidtragenden. Insofern ist Betroffenenbeteiligung an der Zähmung wilder Probleme unerlässlich.

(10) Lösungsversuche wilder Probleme werfen oft Schatten: also unerwünschte Folgeerscheinungen, die wiederum Gegenstand von Planung sein können. Im Zweifelsfall muss ein Nachteils-ausgleich gewährt werden.

(11) Derjenige, der einen Zähmungsversuch unternimmt, hat kein Recht, einen Fehler zu machen. Allerdings gibt es in der Regel keine fehlerfreie Lösung wilder Probleme. Insofern entsteht für den Problemlöser ein ethischer Konflikt, den dieser individuell verantworten muss.

(12) Oft wird die Wildheit eines Problems erst beim Versuch seiner Zähmung erkannt. Insofern kann der Problemlöser „Kopf und Kragen“ riskieren.

Wir können die angedeutete Differenz der Problemstellung hier nicht vertiefen. Wichtige Konsequenzen für den planerischen Umgang mit wilden Problemen sind:

· Betroffene und Beteiligte sollten einen gleichen Informationsstand haben

· Planung wird als Organisation von Wertkonflikten verstanden

· Betroffenenbeteiligung ist unverzichtbar, da Planung in der Regel in machtstrukturierten Systemen stattfindet und die Betroffenen deshalb leicht „überhört“ werden

· die Planerin bzw. der Planer steht im Zweifelsfall auf der Seite der Betroffenen

Wenn es bei der Planung vor allem um die Organisation von Wertkonflikten geht, dann ist es notwendig, auf diese zentrale Bedeutung der jeweiligen Wertbasis hinzuweisen, die jeder Planung zugrunde liegt. Die Auseinandersetzung um die Wertbasis muss am Anfang jeder Planung stehen. Dazu ein Blick auf einen Planungskreislauf.

Im PDF auf Seite 11 die Abbildung 4: Planungskreislauf: Dieser besteht aus folgenedn Schritten: 1) Was ist der Fall? 2) Wie bewerte ich das? 3) Welche Ziele sollen für die Systemveränderung gelten 4) Welche Maßnahmen zur Systemveränderung sollen eingesetzt werden? 5) Was muss für die Planung der Maßnahmen beachtet werden? 6) Wie müssen die Ressourcen organisiert werden für die Durchführung der Maßnahmen? 7) Welche Erfolgskontrollen bei der Durchführung der Maßnahmen müssen vorgesehen werden? 8) Wann muss möglicherweise vor dem Ende ein Zwischenzyklus eingeführt werden? 9) Wie wird eine abschließende Erfolgskontrolle durchgeführt? In Punkt 2) und 3) sollten die Wertbasis transparent gemacht werden.

Bei allen Formen kommunaler Inklusionspläne geht es auch um ein Hintergrundthema, das ich als die Stärkung der Lernbereitschaft von Organisationen bezeichnen will.

Das Lernen von Organisationen - wie könnte das gehen?

Es gibt ein gutes Vorbild, das sich im Bereich der Organisationsentwicklung weltweit durchgesetzt hat. Es handelt sich um Theorie und Praxis einer lernenden Organisation.[11] Organisationales Lernen lebt von einem Methodenmix von insgesamt fünf Einzelmethoden.

1. Jede Organisation sollte eine Vision haben, aus der sie Leitbild und Standards ableitet.[12]

2. Die Mitarbeitenden in der Organisation sollten sich zur persönlichen Meisterschaft in ihrem beruflichen Handeln bekennen.

3. Das würde für die Mitarbeitenden und die Organisation bedeuten, dass sie bereit sind, an mentalen Barrieren zu arbeiten.

4. Es geht in den Organisationen um ein Balancieren zwischen Teamarbeit und Einzelarbeit. Wobei jede Arbeitsform auch für sich selbst qualifiziert werden müsste.

5. Alles hängt miteinander zusammen und insofern ist eine lernende Organisation verpflichtet, sich selbst als System zu begreifen, aber auch sich selbst als ein Element innerhalb eines größeren Systems zu verstehen. Hier ginge es um das Gesamtsystem der Lebensraumgestaltung für alle Menschen, die von Exklusion betroffen sind. Die  Systemanalyse reicht nicht aus. Es ist auch notwendig, eine entsprechende Systempraxis zu kreieren.

Zur Systempraxis gehört auch die Kunst des Balancierens zwischen Stabilität und Instabilität. Gerade im kommunalen Planungsbereich haben wir immer noch zu viel Stabilitätsmanagement; das hängt mit der Versäulung  unterschiedlicher planender Ämter zusammen. Wir sind noch zu stark an alten Strukturen orientiert und dies führt oft zur Erstarrung und zu nicht mehr zeitgemäßen Angeboten.

Aber es ist sicher auch notwendig, die Innovation nicht zu schnell zu forcieren. Zu viel Instabilitätsmanagement kann zu individuellen und organisationalen Überforderungen führen.

Was dieser Balanceakt für eine integrierte und inklusionstaugliche Sozialplanung bedeutet, das haben wir im VSOP in einem Diskussionspapier beschrieben: "Positionspapier des Vereines für Sozialplanung zur inklusiven Sozialplanung 2012".  Das Positionspapier kann von unserer Homepage herunterladen werden (www.vsop.de unter "Fachpolitische Stellungnahmen").

Die entscheidende Vision für alle Aktivitäten wird in der BRK selbst formuliert. Aus der Perspektive der Menschenrechtsentwicklung geht es zusammenfassend um

- Die Achtung der Menschenwürde, unabhängig davon, ob ein Mensch behindert ist oder nicht.

- Die Beteiligung der Betroffenen an der Gestaltung der Lebensbezüge.

- Die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Möglichkeiten nach der Maßgabe der individuellen Potentiale.

- Die Gestaltung örtlicher Wirklichkeit in der Weise, dass dort ein inklusives Leben für jeden Menschen gelingen kann.

- Den Abbau von Diskriminierung und Ausschluss.

- Die Möglichkeit der Rechtsverwirklichung für jeden unabhängig von dessen finanzieller Kraft.

- Die Entwicklung eines öffentlichen Bewusstseins über Bedingungen und Konsequenzen von Inklusion.

Ein abschließendes Wort: Das Ganze ist ein gewaltiges Projekt. Vielleicht sagen dann einige, dann fangen wir doch gar nicht erst an: Der gegenwärtige Zustand ist doch in Ordnung. Es beginnt beispielsweise oft ein typischer Streit in dem Sinne, dass gefragt wird, ob Förderschulen nicht schon inklusiv sind und ob man sie überhaupt unter dem Gebot der BRK auflösen muss?

Jeder und jede möge sich aufrichtig befragen: "Willst Du wirklich so leben, wie Du das gegenwärtig den Menschen in dem Kontext, den Du zu verantworten hast, zumutest?" Inklusion beginnt also auch mit Selbstreflektion und führt dann über die Sozialrechtsverwirklichung in die Menschenrechtsverwirklichung. Hier müssen wir offensichtlich einen Schwerpunkt setzen. Ich bin davon überzeugt, das die vorgeschlagene Selbstreflektion zur Erkenntnis bei jeder und jedem führt: "Eigentlich bin ich auch ein Experte für inklusive Praxis. Ich sollte mein Wissen mutiger in öffentliche und private Strukturen einbringen."

Im Übrigen macht der Soziologe Niklas Luhmann auf gesellschaftliche Treiber aufmerksam. Er nennt die Treiber Macht, Geld und Recht.

Über die BRK sind wir nun aufgefordert, Menschenrechtsverwirklichung zu betreiben und die anderen Treiber Macht und Geld für diese Strategie der Menschenrechtsverwirklichung entsprechend einzusetzen.




E-Mail: prof.strunk@t-online.de

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[1] Das betreffende Referat des Ministers kann im Internet abgerufen werden: Mathias Brodkorb, Warum Inklusion unmöglich ist. Über schulische Paradoxien zwischen Liebe und Leistung.

[2] Erlass der Zaren

[3] Vergl. dazu: Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, München 2011

[4] Beispielhaft sind die folgenden Veröffentlichungen:

Elisabeth Conradi, Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/Main 2001

Andreas Tietze, Krisen als Chance. Achtsamkeit – ein ethischer Handlungsrahmen für das Management in der Sozialwirtschaft, Baden-Baden 2011

[5] Vergl. dazu: Wolfgang Budde, Frank Früchtl, Wolfgang Hinte, Sozialraumorientierung – Wege zu einer veränderten Praxis, Frankfurt / Main 2006

[6] Christopher Alexander u. a., Eine Mustersprache. Städte. Gebäude. Konstruktion, Wien 2011 (2. Auflage)

[7] Diese Zeichnung ist folgendem Band entnommen: Dorothea Lampke, Albrecht Rohrmann, Johannes Schädler (Hrsg.), Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen, 2011, S. 179

[8] Inklusion vor Ort. Der kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch, Berlin 2011

[9] Vergl. dazu: Klaus Dörner, Heimträger sind Geiselnehmer, in: Caritas NRW 5 (2001). Der oft zitierte Satz heißt vollständig: „Heimträger sind Geiselnehmer und die Kostenträger leisten Beihilfe bei der Geiselnahme!“

[10] Vergl. dazu: Andreas Strunk, Veränderungsmanagement, in: Bernd Maelicke, Innovation und Management in der Sozialwirtschaft, Neuwied, München 2005, S. 156-164. Diese planungsmethodologischen Überlegungen sind von mir formuliert in Anlehnung an: Horst W. Rittel, Planen. Entwerfen. Design, Berlin 1992

[11] Vergl. dazu: Peter M. Senge, Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Stuttgart 2011 (11. Auflage)

[12] Vergl. dazu: Andreas Strunk (Hrsg.) Leitbildentwicklung und systemisches Controlling, Baden-Baden 2013

 

 

 
 

 

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